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100 Jahre IAM – eine Chronik

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Blockflöten
Blockflöten auf einer Musikwoche, Foto: Annette John

Vorbemerkung

Der Internationale Arbeitskreis für Musik e. V. (IAM), einer meiner langjährigen Kunden, feiert 100-jähriges Jubiläum. Dazu findet am letzten Wochenende im September einen Festakt vor wahrhaft majestätischer Kulisse des barocken Zisterzienser-Klosters Schöntal im Tal der Jagst statt. Parallel entsteht eine Vereinschronik. Ein besserer Zeitpunkt, um diesen außergewöhnlichen Verein in meinem Kulturblog vorzustellen, werde ich nicht finden. Deshalb bin ich Vorstandsmitglied Manfred Harras sehr dankbar, dass ich den Text seines historischen Abrisses, der in einer ersten Version auf der Website des IAM erschienen ist, hier verwenden darf. Ich habe ihn mit Archivmaterial und jüngeren Bildaufnahmen illustriert.

Der IAM ist heute wie in seiner 100-jährigen Historie Anlaufstelle für Hobby- und Laienmusiker jedes Alters aus ganz Deutschland und darüber hinaus. Seine Entstehung ist eingebettet in die Entwicklung der Jugendmusikbewegung der Weimarer Republik. Die Geschichte dieser Strömung ist über ein vorzüglich digital präsentiertes Archiv erschlossen, das dem interessierten Laien und der Wissenschaft eine Vertiefung in die Thematik gestattet: Jugendmusikbewegung – Quellen und Hintergründe.

100 Jahre IAM

Von der Wandervogel-Bewegung zum Musikwochen-Veranstalter

Die Jugendmusik-Bewegung

Die Gründung der Vorgängervereine des heutigen IAM wäre ohne die Wandervogel-Bewegung, die Jugendmusik-Bewegung und deren Aktivitäten in Deutschland (bzw. über dessen Grenzen hinaus) nicht denkbar. Bereits 1896 kam es in Steglitz zur ersten Gründung einer Wandervogel-Gruppe. Rasch folgten in den nächsten Jahren und Jahrzehnten immer weitere Gründungen von Wandergruppen, die das Ideal des gemeinsamen Wanderns, Wanderfahrten und Wanderlagern einte. Sehr schnell bekam das gemeinsame Singen in diesen Vereinigungen einen besonderen Stellenwert. Angeregt durch gemeinschaftliches Singen von Volksliedern und anderem Liedgut, veröffentlichte Hans Breuer (1883-1918) im Jahr 1908 das Liederbuch Der Zupfgeigenhansel – unter Mitarbeit vieler Wandervögel.

Innerhalb des Wandervogels kristallisierte sich mehr und mehr eine Gruppierung heraus, für die das Singen in der Gemeinschaft das Wichtigste war. Somit entstand aus dem Wandervogel heraus die Jugendmusik-Bewegung. Ihre Anhänger lehnten die großbürgerliche Musikkultur mit ihren konservativen Konzertformen (und dem damit verbundenen Virtuosentum) auf das Heftigste ab. Der Leiter der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, Gustav Wynecken (1875-1964) hingegen, war ein entschiedener Kritiker der Art und Weise, wie in der Jugendmusik-Bewegung das Singen gepflegt wurde. Er empfahl, sich an seinem Kollegen, dem Musikpädagogen A. Halm, zu orientieren, der ein neues Verständnis für das „Eigenreich der Musik“ entwickelt hatte, bei dem vor allem die Vokalmusik von Bach und Bruckner im Mittelpunkt stand.

Die Jugendmusik-Bewegung brachte dann ziemlich bald zwei unterschiedliche Entwicklungsrichtungen hervor, die bis 1933 strikt unabhängig voneinander tätig waren: Die eine Richtung hatte es sich zum Ziel gesetzt, auf breiter Basis im musikpädagogischen Sektor und in der Organisation der musikalischen Jugend zu wirken. Die andere Linie war bestrebt, neben der Vokalarbeit eine Reform der Haus- und Kirchenmusik herbeizuführen. Walter Hensel, ursprünglich Julius Janiczek (1887 in Mährisch-Trübau geboren und 1956 in München gestorben), setzte sich als praktischer Musiker und Musikwissenschaftler zeitlebens für die Pflege des Volksliedes ein. Mit seiner ersten Frau Olga leitete er in kleinen und großen Veranstaltungen offene Singen, Singabende und Singwochenenden. Walter und Olga Hensel waren die eigentlichen Begründer der Singwochen – einer musikalischen Erziehungsform, die bis heute (mit erweiterten Zielsetzungen) ihre Lebendigkeit und Gültigkeit bewahrt hat.

Singwoche mit Walther Hensel 1925
Singwoche der Saalhäuser in Thüringen (bei Bad Kösen) mit Walther Hensel, 1925 (Quelle: AdJb A 228 Nr. 4910)

Der Finkensteiner Bund

1923 fand unter ihrer Leitung eine Singwoche in dem kleinen Ort Finkenstein, unweit von Mährisch-Trübau (in der damaligen Tschechoslowakei) statt. Der Gründer des Bärenreiter-Verlages, Karl Vötterle (geboren 1903 in Augsburg, gestorben 1975 in Kassel), nahm an dieser Singwoche teil. Nachdem er den Verlag 1923 in Augsburg gegründet hatte, publizierte er gleich am Anfang seiner verlegerischen Tätigkeit (im Anschluss an die Finkensteiner Singwoche) die Finkensteiner Blätter, die er später zu einem Liederbuch zusammenfasste und mit weiteren Publikationen Hensels veröffentlichte. Vötterle, der Hensel und seiner Arbeit eng verbunden war, stand ihm als Verleger und auch als Organisator in den folgenden Jahren zu Seite.

Die Idee, eine Liedblattreihe zu konzipieren, war Vötterle schon bald nach seinem ersten Zusammentreffen mit dem Ehepaar Hensel gekommen, also bereits vor der ersten Finkensteiner Singwoche. Angeregt von der Arbeit der Hensels, für die er einen Liederabend in Augsburg organisiert hatte, übernahm er selbst die Leitung einer Singgruppe in Hattenbach, einem Fabrikvorort von Augsburg. Dabei stellte er sehr bald fest, dass ihm geeignetes Notenmaterial für diese Arbeit fehlte. Um diesem Mangel abzuhelfen, begann er, Liedblätter herzustellen. Das Ehepaar Hensel ermutigte ihn dann anlässlich der ersten Singwoche in Finkenstein, den Teilnehmenden diese Idee vorzustellen. Sie fand begeisterte Aufnahme, und er bekam sofort Bestellungen. Die Einnahmen, die er damit generierte, stellten das Gründungskapital für seinen Bärenreiter-Verlag dar. Nach dem Singwochen-Erlebnis gab er seinen ursprünglichen Plan auf, die Blätter Liedblätter des Bärenreiter zu nennen – er nannte sie Finkensteiner Blätter.

Finkensteiner Blätter 1923-24
Finkensteiner Blätter, Jahrgang 1923/24

Nach der ersten Finkensteiner Singwoche verbreitete sich die Idee des Finkensteiner Singens sehr rasch in ganz Deutschland, Österreich, der Schweiz, Finnland, Schweden, Dänemark und den deutschen Sprachsiedlungen im Ausland. Bald erreichte diese Bewegung auch Jugendbünde, Vereine und Kirchen. Innerhalb des ersten Jahres gründeten sich bereits zahlreiche „Singgemeinden“ innerhalb Deutschlands und über dessen Grenzen hinaus. Im Jahr 1924 fand erneut eine Singwoche in Plan bei Marienburg statt. Dort kam die Frage auf, ob nicht eine Organisation oder ein Verein zur Unterstützung und Förderung der Finkensteiner Idee gegründet werden sollte. Daraufhin kam es im gleichen Jahr im Gasthaus „Zur Sonne“ in Göttingen zur Gründung des Finkensteiner Bundes. Zugleich wurde das Vereinsorgan, die Zeitschrift Die Singgemeinde, ins Leben gerufen. Zum ersten Vorsitzenden des Vereins wurde Karl Vötterle gewählt. Ihm stand Richard Poppe (1884-1960) als unermüdlicher Helfer zur Seite.

In den Anfangsjahren leiteten Walter und Olga Hensel die immer zahlreicher werdenden Singwochen noch allein. Da sich deren Anzahl im Laufe der folgenden Jahre rasch erhöhte, mussten zu ihrer Entlastung weitere Leiter gewonnen werden. Bereits 1929 fand eine „Werkwoche“ in Neudietendorf bei Erfurt statt, bei der sich 70 leitende Mitarbeiter von Singwochen zu einem Gedankenaustausch trafen. Die Vorbereitungen der Singwochen übernahm Karl Vötterle vom Verlagssitz in Augsburg aus. Später erledigte diese Aufgabe seine Mitarbeiterin Gertraud Hahn-Dietrich. Als der Bärenreiter-Verlag 1927 seinen Sitz nach Kassel verlegte, siedelte auch die Geschäftsstelle des Finkensteiner Bundes dorthin über.

Arbeitskreis für Hausmusik

Die überaus erfolgreiche Arbeit des Finkensteiner Bundes fand im Jahr 1933 ein abruptes Ende: Nach der Machtergreifung Adolf Hitlers und seiner NSDAP wurden im Rahmen der sogenannten Gleichschaltung alle Parteien, Gewerkschaften, größeren Vereine, Bünde etc. aufgelöst. Sie hatten sich den Idealen der Nationalsozialisten unterzuordnen. Der Finkensteiner Bund ging in dem von den Nazis neugegründeten Reichsbund Volkstum und Heimat auf. Die vereinseigene Zeitschrift Die Singgemeinde musste ihr Erscheinen einstellen.

Durch das rigorose Vorgehen der NSDAP bei der Auflösung von Vereinen, Verbänden und oppositionellen Parteien gaben viele traditionelle Vereinigungen auf und akzeptierten die scheinbar ausweglose Situation. Die Führungsspitze des Finkensteiner Bundes beugte sich dem Diktat der neuen Herrscher nicht, sondern suchte nach Möglichkeiten und Schlupflöchern, um etwas von der bisherigen erfolgreichen Arbeit zu retten. Sehr schnell nach der Auflösung des Finkensteiner Bundes entschied man sich, das Wagnis einer neuen Vereinsgründung anzugehen. Name und Zielsetzung des Vereins mussten gegenüber den Nazis unverfänglich sein: Der Arbeitskreis für Hausmusik (AfH) wurde gegründet. Das Ideal der deutschen Hausmusik lag auf Parteilinie, und somit erfolgten keine Einwände gegen eine Neugründung. Da schon in den Jahren vor 1933 das Instrumentalspiel vermehrt in den Singwochen seinen Einzug gehalten hatte, war die Ausrichtung auf das Instrumentale und Häusliche ein geschickter Schachzug. Da durch Kriegseinwirkungen die meisten Unterlagen und das Vereinsarchiv verloren gegangen sind, kann man aktuell nicht mehr feststellen, ob seitens der Nazis Auflagen gemacht wurden. Man kann aber aus heutiger Sicht und mit derzeitigem Wissensstand davon ausgehen, dass gewisse Einschränkungen, Kompromisse und Konzessionen gegenüber den neuen Machthabern gemacht werden mussten, um das Überleben des Vereins unter dieser Diktatur zu sichern. Auch eine neue Zeitschrift wurde herausgegeben: die Zeitschrift für Hausmusik.

Inhaltlich gab es bei den Kurswochen immer noch Veranstaltungen, bei denen die Vokalarbeit im Mittelpunkt stand. Insbesondere die Werke von Schütz, Praetorius, Hassler, Schein, Lechner und anderen gehörten nach wie vor zum festen Bestand. Die Moderne wurde ebenso gepflegt – vorausgesetzt, dass die Werke nazikonform waren. Das Schaffen von Hugo Distler gewann gerade in dieser Zeit zunehmend an Bedeutung, bis er von den Nazis als Kulturbolschewist verfemt wurde. Im Zusammenhang mit der Wiederbelebung der sogenannten alten Instrumente wie Blockflöte, Viola da Gamba, Laute etc. boten sich dem Arbeitskreis für Hausmusik große Möglichkeiten, nun auch mit reinen Instrumentalkursen zu wirken. Bekannte Persönlichkeiten wie August Wenzinger und Joseph Bacher (Viola da Gamba), Waldemar Woehl (Blockflöte), Peter Harlan (Laute und Fidel) u. a. leiteten fachspezifische Kurse in Deutschland und im angrenzenden Ausland. August Wenzinger war im Jahr 1933 der Mitbegründer der Schola Cantorum Basiliensis, dem Lehr- und Forschungsinstitut für Alte Musik in Basel. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt er jahrzehntelang als eine der führenden Figuren im Bereich der Alten Musik. Auch unter dem neuen Namen blühte der Verein sofort wieder auf, da viele Mitglieder des Finkensteiner Bundes dem Arbeitskreis für Hausmusik beitraten.

Kasseler Musiktage 1933
Der Arbeitskreis für Hausmusik als Veranstalter: Kasseler Musiktage 1933

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde es immer schwieriger, Singwochen und Kurse auf überregionaler Ebene durchzuführen, zumal sich das Reisen mit zunehmender Zerstörung der Verkehrsinfrastruktur mehr und mehr zu einem umständlichen Unterfangen entwickelte. Beim Bombenangriff auf die Stadt Kassel im Jahr 1944 wurde auch der Bärenreiter-Verlag vollständig zerstört. Die Geschäftsstelle des AfH, die dort untergebracht war und auch von Mitarbeitern des Verlags betreut wurde, fiel ebenfalls der Vernichtung anheim. Aus diesem Grund haben sich nur wenige Unterlagen und Dokumente über den Finkensteiner Bund und die Gründungsjahre des AfH erhalten. Ein vollständiges Archiv, welches über die Zeit bis 1944 Auskunft geben könnte, existiert leider nicht.

Gleich nach dem Krieg begann man mit dem Wiederaufbau des Bärenreiter-Verlags. Auch die Geschäftsstelle des AfH wurde wieder in die Gebäude des Verlags integriert und nahm ihre Arbeit in der Heinrich-Schütz-Allee in Kassel auf. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den Fünfzigerjahren prosperierte auch das Vereinsleben des AfH: Aus den ersten schüchternen, eher regionalen Versuchen, wieder Kurse und Singwochen anbieten zu können, entwickelte sich im Laufe der Fünfziger- und Sechzigerjahre ein immer größer werdendes Angebot von überregionalen Veranstaltungen. Dieses Angebot wies ein sich stetig erweiterndes Spektrum von unterschiedlichen Kursprojekten auf. Es gab Kinder- und Jugendwochen sowie Familien-Singwochen; Chor- und Orchesterarbeit wurden ebenfalls gepflegt. Dies wurde ergänzt durch spezielle Kurse, die sich dem Spiel einzelner Instrumente wie Blockflöte, Viola da Gamba, Querflöte, Violine, Violoncello und Gitarre widmeten. Später kamen auch Angebote aus dem Jazzbereich hinzu.

Umbenennung zum Internationalen Arbeitskreis für Musik

Immer mehr gelang es, die Tätigkeit des AfH auch auf das Ausland auszudehnen. Es gab (und gibt noch immer) einen Austausch mit Partnern in den Niederlanden, Luxemburg und England. Eine sehr erfolgreiche Zusammenarbeit mit führenden Musikern Jugoslawiens nahm durch den Zerfall des Staates ein abruptes Ende. Ebenso wurde die Durchführung von Veranstaltungen mit Israel immer schwieriger und musste nach einigen Jahren eingestellt werden. Durch das verstärkte Engagement des AfH im benachbarten Ausland beschloss der damalige Vereinsvorstand, dieser Entwicklung auch im Vereinsnamen gerecht zu werden: Im Herbst 1969 wurde der Arbeitskreis für Hausmusik umbenannt und trägt seitdem den Namen Internationaler Arbeitskreis für Musik (IAM).

Anfang der 2000er Jahre entschied sich der Vorstand zu einem signifikanten Schritt: der Verlegung der Geschäftsstelle aus Kassel ins Osnabrücker Land. Einerseits war die Eigenständigkeit des IAM mit den Jahren gewachsen. Andererseits wurde als Defizit empfunden, dass der IAM seine Kurse zwar in ganz Deutschland, aber nicht am Ort seiner Geschäftsstelle in Kassel veranstalten konnte: In Kassel selbst gab es nämlich kein passendes Bildungshaus, das einen geeigneten Rahmen zur Realisierung der Musikwochen hätte bieten können. Im Osnabrücker Land wurde der Verein schließlich fündig: Das ehemalige Benediktinerinnen-Kloster Malgarten in Bramsche sollte nicht nur Geschäftsstelle, Notenbibliothek und Instrumentenlager des IAM beherbergen, sondern auch ein atmosphärisch sehr dichter Ort für klein dimensionierte Kurse sein. Im September 2003 erfolgte der Umzug aus Kassel, und in den Folgejahren wurden hier nicht nur Kurse angeboten, die inhaltlich dem Angebotskanon des Vereins entsprachen, sondern auch zahlreiche Seminare im Bereich der beruflichen Weiterbildung.

2004 fanden zudem die ersten der Malgartener Klosterkonzerte statt. In nunmehr 20 Jahren hat sich diese Konzertreihe zu einer festen Größe im Konzertkalender im westlichen Niedersachsen entwickelt. Renommierte Pianisten, Kammermusikensembles und Kammerchöre aus Deutschland und Europa treten hier in jährlich ca. zehn Konzerten auf. Fast 20 Jahre nach dem Umzug aus Kassel ins Kloster Malgarten wurde ein erneuter Umzug nötig: Seit Juni 2023 hat der IAM sein neues Domizil in den Räumen der ehemaligen Druckerei Rasch in der Stadt Bramsche. Das Gebäude befindet sich inmitten eines Quartiers, das in den kommenden Jahren einem städtebaulichen Transformationsprozess unterworfen sein wird. Das mittel- bis langfristige Potenzial an diesem neuen Standort dürfte beträchtlich sein. Und so feiert der IAM sein 100-jähriges Jubiläum mit dem Blick auf die Zukunft.

Text: Manfred Harras

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