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Fiktive Architektur
Wir alle haben sie fast täglich in der Hand, auch wenn wir zunehmend bargeldlos zahlen: die Euro-Scheine mit Motiven der europäischen Architekturgeschichte. Habt ihr euch schon mal gefragt, was dort genau dargestellt ist? Manche glauben, Bauwerke ihrer Heimatstadt oder aus dem Urlaub zu erkennen. Erst kürzlich ist mir versichert worden, der 20-Euro-Schein würde ein gotisches Fenster am Halberstädter Dom zeigen. Es ist nicht einfach, mit diesen sich hartnäckig haltenden Gerüchten aufzuräumen. Dabei liegen die Belege für die Fehlannahme auf der Hand. Die Europäische Zentralbank stellt unmissverständlich klar, dass keines der abgebildeten Gebäude real existiert, sondern fiktiv ist, um einzelne Mitgliedstaaten nicht zu bevorzugen.
Europäisches Bauerbe als Leitlinie
Aber schauen wir uns die Motive genauer an: Dargestellt sind verschiedene Epochen der europäischen Architekturgeschichte. Mit dem Wert der Geldscheine schreiten wir auch in der Chronologie der Architekturstile voran. Auf der Rückseite befindet sich stets ein Brückenbauwerk der entsprechenden Epoche. Die Vorderseite zeigt eine Portalkonstruktion oder Fenstersituation. Wir starten in der Antike und enden im 20. Jahrhundert, wenn der nicht mehr im Umlauf befindliche 500-Euro-Schein mitberücksichtigt wird. Bemerkenswert ist, dass die dargestellte Architektur so präzise simuliert wird, dass sie ohne Weiteres in dieser Form in einem europäischen Land stehen könnte.
Im Einzelnen sind auf den Vorderseiten folgende Motive zu sehen, wobei mittlerweile die zweite von 2013 bis 2019 eingeführte Banknotenserie mit leicht veränderten Motiven im Umlauf ist (eine dritte ist in Planung) :
- 5 Euro – eine antike Triumphbogenarchitektur mit ionischer Säulenordnung
- 10 Euro – ein romanisches Säulenportal
- 20 Euro – zwei gotische Maßwerkfenster und schemenhaft ein Rippengewölbe
- 50 Euro – zwei Renaissance-Fenster in Form von Ädikulen
- 100 Euro – eine barocke Portal- und Fassadenarchitektur
- 200 Euro – eine Eisen- und Glaskonstruktion
- 500 Euro (nicht mehr im Umlauf) – eine moderne Glasfront in Stahlrahmenkonstruktion
Wir wollen am Beispiel des 20-Euro-Scheines und des Halberstädter Domes aufzeigen, dass Ähnlichkeiten zu vorhandener Architektur nicht zufällig sind, aber doch so allgemein gehalten sind, dass sie nicht auf ein einzelnes Bauwerk zurückgeführt werden können. Dabei kommen wir nicht um etwas Fachsimpelei herum. Wie eingangs bemerkt, bin ich im Umfeld des Freundeskreises mit der mit voller Überzeugung vorgetragenen Behauptung konfrontiert worden, der 20-Euro-Schein würde ein gotisches Fenster des Halberstädter Domes zeigen. Wir wollen schauen, ob dies verifizierbar ist.
Das Maßwerk ist das Maß aller Dinge
Zunächst müssen wir klären, welche Banknotenserie wir zum Vergleich heranziehen müssen. Dieses Dilemma löst sich aber recht schnell auf, denn in beiden Fällen werden dieselben zwei Maßwerkfenster gezeigt. Sie sind lediglich in der Reihenfolge vertauscht und in der Höhe unterschiedlich gestaffelt. Ziehen wir also den neueren Schein als Referenz heran. Durch die charakteristischen Formen des hochgotischen Maßwerks lassen sich die Fenster ins dritte Viertel des 13. Jahrhunderts datieren, wenn wir dafür die Architektur in Deutschland heranziehen. In Frankreich, dem Geburtsland der Gotik, wären sie wenige Jahrzehnte früher – hier wären die Kathedrale von Reims oder der hochgotische Umbau der Abteikirche von Saint-Denis zu nennen – anzusetzen. Durch die außergewöhnliche Chronologie der Bauphasen am Halberstädter Dom sind vergleichbare Formen ausschließlich an den drei westlichen Jochen des Langhauses anzutreffen. Die Bautätigkeit erfolgte hier von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis vor 1317. Es ist die zweite Bauphase an der gotischen Kathedrale.
Konkret existieren im nördlichen Seitenschiff drei Fenster mit klassischen Maßwerkformen, die denjenigen auf dem 20-Euro-Schein stilistisch sehr nah kommen, während bereits im Obergaden und den östlichen Bauteilen der Domkirche eine fortgeschrittene Formensprache vorzufinden ist. Während das auf dem Geldschein abgebildete achtbahnige Fenster mit seinen Dimensionen nur denkbar ist an Querhausfassaden oder einem geraden Chorschluss und in dieser Ausprägung in Halberstadt nicht ansatzweise vorzufinden ist, verdient das bescheidenere Fenster eine nähere Betrachtung. Dieses unterscheidet sich nur in Details von den drei erwähnten Seitenschiffsfenstern. Beide bestehen aus vier Bahnen, von denen jeweils zwei per Spitzbogen zusammengefasst werden. In dessen Couronnement sitzt ein in einen Kreis eingefasster Sechspass um einen kleineren Kreis. Darüber wiederholt sich das Spiel mit einem alle Bahnen umfassenden Spitzbogen, der wiederum einen entsprechenden Sechspass im Couronnement aufnimmt. Die Unterschiede liegen im Detail: Das gebaute Original verfügt in den sechs Pässen des großen Kreises jeweils über einen eingelegten Dreipass. Die gedruckte Variante wiederum ist bereichert durch Dreipässe in den Zwickelflächen des großen Couronnements und Nasen im Abschluss der vier Bahnen des Fensters.
An diesem Beispiel ist nachvollziehbar, wie die Designer der Geldscheine geschickt mit dem tatsächlich existenten Repertoire der Architektursprache hantierten. Die Motive könnten ohne Weiteres direkt aus der europäischen Architekturgeschichte entstammen – und doch findet sich keine exakte Entsprechung. Einschränkend muss man allerdings konstatieren, dass bei der Vielzahl gotischer Kirchen allein in Frankreich nicht auszuschließen ist, dass sich diese Kombination in vollkommener Entsprechung an einem beliebigen Maßwerkfenster der Pfarrkirche eines Provinzstädtchens oder an einer Dorfkirche finden lässt. Das ist dann aber dem Zufall und keiner bewussten Entscheidung geschuldet.
Glossar
Zugegeben, die letzten Ausführungen mit spezifischem Fachvokabular sind nicht leicht nachvollziehbar. Ich möchte daher ein kleines Glossar der wichtigsten Termini als Hilfestellung beisteuern:
- Maßwerk: gotisches Bauornamentik aus geometrischen Formen
- Couronnement: Bogenfeld eines Fensters
- Pass: durch Nasen getrennte Kreisbögen – häufig als Drei- oder Vierpass ausgebildet
- Nase: in die Öffnung eines Fensters vorspringende Spitze
- Zwickel: ausgesparte Fläche zwischen divergierenden Bogenlinien, häufig dreiecksförmig
Übrigens: Wer mehr über Halberstadts mittelalterliches Bauerbe erfahren möchte, möge in einen meiner anderen Artikel hineinschauen: Halberstadt – Stadt der mittelalterlichen Kirchen und sakralen Kunst