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Ein antisemitisches Bildmotiv: die Judensau
Es ist ein äußerst sensibles Thema, dem ich mich hier nähere. Aber es ist für mich als Kunsthistoriker auch sehr reizvoll, denn es stellt ein mittelalterliches Kunstwerk in den Fokus des gesellschaftlichen Diskurses von heute. Die Rede ist vom Rechtsstreit über ein Relief an der Stadtkirche in Wittenberg, das eine Judensau zeigt. Kurzum: Es geht um historischen Antisemitismus.
Stein des Anstoßes ist – und der ist hier tatsächlich wörtlich zu verstehen – ein mittelalterliches Sandsteinrelief, das am Außenmauerwerk der Kirche zu finden ist. Es stellt eine sogenannte Judensau dar, wie sie vor allem im Mittelalter in Mitteleuropa in der Bildhauerkunst verbreitet war. Auf dem Wittenberger Exemplar ist ein Rabbiner zu sehen, der unter den Schwanz eines Schweines schaut. Weitere Figuren, die sich durch ihre Kopfbedeckung als Juden identifizieren lassen, saugen an den Zitzen des Schweines. Solche antisemitischen Darstellungen dienten zur Diffamierung und Ausgrenzung jüdischen Lebens. Juden sollten dadurch wahrscheinlich abgehalten werden, sich in der Stadt niederzulassen.
Rechtsstreit um ein mittelalterliches Relief
Michael Düllmann, ein Mitglied der jüdischen Gemeinde in Berlin, fühlte sich dadurch beleidigt und verklagte die evangelische Gemeinde in Wittenberg auf Beseitigung des Reliefs. Das Landgericht Dessau-Roßlau sah dies aber anders. Die Skulptur (vom Anwalt des Klägers und vielen Medien fälschlich als Plastik bezeichnet) sei nicht als Missachtung gegenüber den heute lebenden Juden einzustufen. Der Kläger möchte nun in Berufung gehen. Soweit der Sachstand!
Update (04.02.20): Auch das OLG Naumburg sah keine Veranlassung, in der Sache der Wittenberger Judensau einzuschreiten und wies die Klage ab. Eine Revision an den Bundesgerichtshof ist zugelassen. Der Richter betonte, dass das Relief isoliert betrachtet beleidigend wirken könne. Die Einbettung in die kommentierende Gedenkstätte nehme ihm jedoch den beleidigenden Charakter.
Update (14.06.22): Und auch vor dem BGH scheiterte Düllmann letztlich. Der vorsitzende Richter des sechsten Zivilsenats sah in dem Relief zwar „in Stein gemeißelter Antisemitismus“, allerdings sei aufgrund der Distanzierung und Kontextualisierung an dessen Stelle ein Mahnmal getreten.
Forderung nach Bildersturm?
Der Streit dürfte weit über den lokalen Bezug hinaus Bedeutung haben für die Frage, wie wir mit unserem historischen Kulturerbe umgehen. Sind Zeugnisse der Kunst, die eine gesellschaftliche Realität in unserer Historie abbilden und die unseren heutigen Vorstellungen einer liberalen und aufgeklärten Gemeinschaft entgegenstehen, grundsätzlich aus der Öffentlichkeit zu verbannen? Oder können wir dem Betrachter einer mittelalterlichen Skulptur nicht zumuten, die Abstraktion zu erkennen, die sich durch die chronologische Einordnung der Botschaft ergibt?
Eine bemerkenswert radikale Antwort fand ich bei dem Juristen und Politikwissenschaftler Volker Boehme-Neßler:
Das Urteil ist ein Skandal. Das Ergebnis ist inakzeptabel. Die Begründung, die das Gericht findet, ist erschreckend borniert und ahistorisch. Das „Judensau“-Relief ist keine Beleidigung? Hat der Richter es überhaupt nicht gesehen? Kennt er nicht die politische Geschichte dieses antisemitischen Bildmotivs? Hat er keine Ahnung davon, wie Bilder das Denken der Menschen beeinflussen? Hat er vergessen, dass er – wie alle staatlichen Institutionen – die Würde des Menschen schützen muss? Und was ist mit der Signalwirkung dieses Urteils? Lässt es sich nicht auch als eine Bestätigung für den neuen Antisemitismus in der Gesellschaft verstehen?
Für eine Person mit mindestens drei akademischen Graden ist das eine überraschend eindimensionale Sichtweise. Denn konsequent betrachtet, müssten wir dann auch darüber diskutieren, ob wir das Chorgestühl im Kölner Dom entfernen oder Kapitelle am Dom im schwedischen Uppsala abschlagen, um nur zwei Orte des Bildmotivs aufzuzählen. Ich befürchte, dann wäre die Beseitigung von zweifelsohne überwiegend diskriminierenden Darstellungen von Sklaven, Schwarzen oder des Islam in der christlichen Kunst bald ebenfalls kein (juristisches) Tabu mehr. Boehme-Neßler fordert hier nichts anderes als den Bildersturm, auch wenn er es dann wieder von sich weist und sich somit selbst widerspricht:
Niemand will die europäische Kultur umschreiben und von allen antisemitischen Inhalten befreien. Das wäre irrational, naiv, ahistorisch und – ja, auch das – albern. Ein Bildersturm aus political correctness wäre eine erschreckende Option.
Gegen den Antisemitismus
Ist die Darstellung auf einem Relief in mehreren Metern Höhe eines mittelalterlichen Kirchenbaus wirklich geeignet, Antisemitismus in unserer Gesellschaft zu fördern? Diese Vorstellung fällt mir schwer. Entscheidend ist der Adressat der Botschaft. In Wittenberg und zahlreichen weiteren historischen Beispielen sind es weder die Juden, noch die Antisemiten von heute. Letztere werden zudem in ihrer überwiegenden Mehrheit gar nicht den Horizont besitzen, das Gesehene dahingehend zu interpretieren. Im Übrigen gedenkt man vor Ort mit einer Bodentafel dem Holocaust. Eine Tafel, die den Kontext der Darstellung erläutert, ist im Gespräch.
Antisemitismus ist eine furchtbare Geißel, die im letzten Jahrhundert in die denkbar schlimmste Katastrophe führte. Die Nachwirkungen flammen auch heute immer wieder auf. Doch wir bekämpfen sie nicht, indem wir in ahistorischer Weise unsere Kulturdenkmäler in Frage stellen und sie verstümmeln. Der kritische Umgang mit der eigenen Geschichte darf nicht zur Beschneidung derselbigen führen. Die Judensau von Wittenberg ist ein Nebenkriegsschauplatz, der von den dringenden Problemen in diesem Land ablenkt. Es wäre klug, wenn wir dem heutigen Antisemitismus auf andere Weise die Stirn bieten. Diskussionen und Gerichtsverhandlungen um mittelalterliche Kunst sind dafür nicht geeignet.
Wie viele Jahre müssen vergehen bis eine abscheuliche Judendiffamierung zur Kunst wird?
Diesem Relief das Attribut „Kunst“ zuzubilligen oder es in den deutschen Kulturschatz eingliedern zu wollen ist hochgradig fragwürdig.
Dem Bildmotiv die Kunst abzusprechen, würde in der Tat den Bildersturm bedeuten. Wir müssten damit beginnen, Kapitelle zu zerstören und Chorgestühl zu verbrennen. Diese Lösung kann niemand ernsthaft anstreben.
Wir hatten schon ‚mal einen Bildersturm am Ende der Antike. Und Christen fühlten sich durch die „Götzendarstellungen“ auch wirklich beleidigt. Kunst wurde vernichtet – und Wissen. Es folgten 1.000 Jahre Mittelalter. Das kann man jetzt nicht gleichsetzen. Aber sollte einem zu Denken geben.
1. Es muss am Originalort sichtbar bleiben, welche Absurditäten Judenhass hervorgebracht haben. Nur so kann man warnende Vergleiche ziehen.
2. Wo kommen wir hin, wenn wir alles Historische eleminieren, das zu Recht nicht in unser heutiges Weltbild passt? Lassen wir demnächst die KZ-Gedenkstätten abreissen? Das wird wie die berüchtigten Stalin-Fotos, aus denen nach und nach alle in Ungnade gefallene Wegbegleiter ausretuschiert wurden.
3. Es geht nicht um Kunstwert – obwohl das Werk wegen seiner bewußt angelegten Häßlichkeit kunsthistorischen Wert besitzt. Es geht um ein leider bedeutendes Zeugnis der deutschen Geschichte.
Da nun der BGH in seine Urteilsbegründung das Mahnmal, dass in Wittenberg erschaffen wurde, betonte, ist Ihr Punkt 2 besonders einleuchtend. Aber auch sonst stimme ich Ihrer Argumentation vollumfänglich zu.