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Die kritische Rekonstruktion am historischen Objekt

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Dresdner Frauenkirche 1958
Zerstörte Dresdner Frauenkirche im Jahre 1958 – Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-60015-0002 / Giso Löwe / CC-BY-SA 3.0

Kleihues und der Stadtraum

Die „Kritische Rekonstruktion“ ist eine vergleichsweise junge Terminologie der Architekturgeschichte und der Architekturtheorie. Sie fand in den 80er- und 90er-Jahren im Kontext einer Debatte über Stadtbaukonzepte in Berlin Verbreitung und fungierte schließlich als Leitbild in der Stadtentwicklungspolitik. Prägende Gestalt war der Architekt Josef Paul Kleihues, der aber selbst anmerkte, dass die Bezeichnung in diesem Kontext zu Missverständnissen führen könne. Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) 1987 stellte er ein Konzept vor, bei dem der historische Stadtgrundriss sowie Merkmale der historischen Bebauung in einer zeitgenössischen Stadtreparatur Beachtung finden sollten. Die kritische Rekonstruktion im Sinne von Kleihues bezieht sich also auf den Stadtraum an sich, nicht auf den Umgang mit historischen Einzelobjekten und ihren Fassaden.

Die reflektierte Auseinandersetzung

In jüngerer Vergangenheit fand der Terminus der „Kritischen Rekonstruktion“ auch Anwendung bei Rekonstruktionsprojekten von solitären Objekten. Bei diesem Übergang zwischen zwar verwandten, aber doch nicht identischen Sachgebieten, kommt es nicht selten zu unterschiedlichen Interpretationen der Begrifflichkeiten. Der Architekturtheoretiker Philipp Oswalt, der an der Universität Kassel lehrt, definiert es im Kontext der Rekonstruktion der Bauhaus-Meisterhäuser in Dessau folgendermaßen:

Dieses Projekt erfordert eine besondere Sensibilität im Umgang mit der historischen Bausubstanz und ihrer Geschichte. Es kann nicht darum gehen, den Zustand der 1920er Jahre exakt zu reproduzieren. Es geht um einen Entwurf als kritische Rekonstruktion, die sowohl die einstige Räumlichkeit erinnert, aber auch die Zerstörungen und Überformungen der letzten siebzig Jahre lesbar macht.

Oswalt verfolgt hier einen ganz anderen Ansatz, als es noch Kleihues tat, der in einer kritischen Rekonstruktion in erster Linie ein städtebauliches Konzept sah. „Kritisch“ besitzt bei Oswalt und dem in Dessau ausführenden Architektenbüro Bruno Fioretti Marquez eine andere Schlagrichtung, indem es die reflektierte Auseinandersetzung mit dem konkreten historischen Objekt in den Vordergrund stellt. Auch in der Debatte um den Wiederaufbau von Schinkels Bauakademie in Berlin wird die kritische Rekonstruktion als Ausdrucksform der Reflexion verstanden.

Dessau - Haus Gropius
Rekonstruiertes Meisterhaus: Haus Gropius in Dessau

Das Beispiel der Dresdner Frauenkirche

Besonders anschaulich lässt sich die Problematik an der 2005 abgeschlossenen Rekonstruktion der Dresdner Frauenkirche darstellen. Eines der auffälligsten Merkmale des Kirchenbaus ist der kontrastreiche Wechsel von hellen und dunklen Sandsteinen. Der Effekt ergibt sich durch die Einbeziehung von noch stehendem bzw. geborgenem Baumaterial in die Rekonstruktion. Das Verfahren wird als Anastylose bezeichnet, wenngleich es in Dresden nicht in letzter Konsequenz Anwendung fand. Die dunkle Patina der Originalsteine, auf deren Reinigung man verzichtete, setzt sich scharfkantig von dem neu verbauten Sandstein der Rekonstruktion ab. Die Stiftung Frauenkirche Dresden weist diesem Umstand folgende Bedeutung zu:

Während die alte Frauenkirche die für patinierten Sandstein typische dunkle Farbe hatte, beeindruckt der heutige Bau durch seine helle Fassade, die immer wieder durch dunkle Bereiche durchbrochen wird. Neue und alte Steine wurden gemeinsam verbaut, sodass die Geschichte der Frauenkirche noch auf lange Zeit ablesbar bleiben wird. Das Miteinander aus Alt und Neu veranschaulicht, dass die Vergangenheit stets ein Teil der Gegenwart ist und dass Wunden heilen können.

Mauerwerk Dresdner Frauenkirche
Das Mauerwerk der Dresdner Frauenkirche mit alten und neuen Sandsteinen

Plädoyer für eine weite Definition

Das Entscheidende ist also nicht die gleichzeitige Verwendung von alten und neuen Steinen – denn das trifft auf unzählige nach dem Krieg rekonstruierte Bauten zu -, sondern dass damit ein ganz bewusster visueller Effekt hervorgerufen wird. Es entsteht eine auffällige Verfremdung der Außenhülle durch harte Farbkontraste, die Alt und Neu scheiden lässt und sich vom 1945 zerstörten Original deutlich abhebt. Damit wird die Zerstörungsgeschichte der Kirche dokumentiert und für den Betrachter explizit anschaulich gemacht. Ich möchte vor diesem Hintergrund dafür plädieren, die kritische Rekonstruktion sehr weit aufzufassen.

Denkt man den oben von Oswalt skizzierten Weg bei der Beschreibung einer kritischen Rekonstruktion konsequent zu Ende, so werden auch an der Dresdner Frauenkirche ebendiese Kriterien der reflektierten Auseinandersetzung erkennbar. Auf diese Weise vereint der Bau Elemente der originalgetreuen und der kritischen Rekonstruktion auf famose Weise. Die Krönung dieser Leistung ist der Umstand, dass die Differenzierung zwischen Alt und Neu am Bau zunehmend verblassen wird, so wie die Erinnerung an den harten Einschnitt in der Baugeschichte der Frauenkirche mit der Zeit verblasst. In Dresden hat man sich Gedanken darüber gemacht, was eine Rekonstruktion über die einfache Stadtreparatur hinaus leisten kann. Mit einem subtilen, aber dennoch prägnanten Kunstgriff wird eine metaphorische Botschaft ausgesendet. Vielleicht hat dieser Umstand einen erheblichen Anteil daran, dass die Rekonstruktion der Dresdner Frauenkirche im Gegensatz zu jüngeren Projekten dieser Art vergleichsweise geräusch- und kritiklos vonstattenging.

Vorschlag für einen Leitsatz: Handelt es sich um eine wirkliche Rekonstruktion und nicht nur um Sanierungen, Reparaturen, Umbauten, Ergänzungen etc. und weicht man hierbei bei entscheidenden Merkmalen vom Original ab und intendiert auf diese Weise eine tiefergehende Botschaft, wird also die reflektierte Auseinandersetzung mit dem historischen Objekt erkennbar, dann kann von einer (in Teilen) kritischen Rekonstruktion gesprochen werden.

Zu den verschiedenen Ansätzen der Rekonstruktion sei insbesondere verwiesen auf:
Alexander Stumm, Architektonische Konzepte der Rekonstruktion, Gütersloh / Berlin / Basel 2017.

2 Kommentare zu “Die kritische Rekonstruktion am historischen Objekt

  1. Bloß dass es sich hier um eine westdeutsche, genauer: westberiner Begriffsbildung handelt, die erst mit der IBA einsetzte, und die mit der (längeren) Geschichte des Wiederaufbaus der Frauenkirche nun gar nichts zu tun hat.

    1. Akademische Diskurse enden – wenn sich nicht die Politik einmischt – in aller Regel an keinen Landes- oder sonstigen Grenzen. Insofern ist es eine gesamtdeutsche Debatte, zumal die Anwendung auf einzelne Rekonstruktionsbauten weit nach der Wende erfolgte. Und wenn der dabei verfolgte Gedanke konsequent zu Ende geführt wird, dann landen wir eben doch bei Rekonstruktionen wie der Frauenkirche, an der die Frage gestellt werden muss, ob ein originalgetreuer Wiederaufbau nicht in einzelnen Aspekten doch als kritisch bezeichnet werden darf. Gegenargumente kann ich Ihren Zeilen nicht entnehmen.

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