Inhalt
Die Vier-Tore-Stadt
Wer heute auf Neubrandburg zufährt, möchte vielleicht am liebsten schnell wieder umkehren. Die Außenbezirke der Stadt sind gesäumt von DDR-Plattenbauten, die historische Altstadt im Krieg in großen Teilen zerstört. Doch die drittgrößte Stadt in Mecklenburg-Vorpommern birgt einen kostbaren Schatz, der einen Besuch sehr lohnenswert macht. Gemeint ist die am besten erhaltene mittelalterliche Stadtbefestigung Europas in einem Backsteingebiet, der die Stadt an dem Flüsschen Tollense den Beinamen „Vier-Tore-Stadt“ zu verdanken hat.
1248 verlieh Markgraf Johann von Brandenburg dem Ort das Brandenburgischen Stadtrecht. Neubrandenburg ist eine typische Stadtgründung der hochmittelalterlichen Siedlungsphase östlich der Elbe. Entsprechend regelmäßig präsentiert sich der Stadtgrundriss mit rechtwinklig aufeinanderstoßenden Straßenverläufen. In der Mitte befindet sich der rechteckige Marktplatz, in einem davon abgesetzten Quadranten die Stadtpfarrkirche St. Marien.
Die Stadtmauer
Rundgang
Das einzigartige Architekturensemble der Befestigungsanlagen erlebt man wohl am vollständigsten bei einem Rundgang entlang der Stadtmauer. Wahlweise haben wir dabei mehrfach von der Stadtseite zur Feldseite – so wird die Außenseite der Stadtmauer bezeichnet – und umgekehrt gewechselt. Außerhalb der Stadtmauer sind die ehemaligen Wallanlagen und Gräben zu einer parkartigen Promenade gestaltet. Der Verkehrslärm des mehrspurigen Stadtrings dringt dabei nur gedämpft durch die Bäume und lässt fast vergessen, dass man sich in einer mittelgroßen deutschen Stadt mit ihrer Geschäftigkeit befindet.
Die Stadtseite offenbarte uns dagegen immer wieder spannende Einblicke in die nur spärlich erhaltene historische Bausubstanz. Letztere findet sich vor allem im Südwesten der Altstadt, an der Großen Wollweberstraße mit ihren meist zweigeschossigen traufenständigen Fachwerkhäusern. Doch die Wunden, die der letzte Krieg in die Stadt gerissen hat, sind noch unverkennbar an vereinzelten Bachflächen und den vielen Nachkriegsbauten auszumachen. Hervorzuheben ist dabei der Wiederaufbau der 50er-Jahre, der sich von den späteren DDR-Plattenbaukulisse qualitativ wohltuend abhebt.
Die Wiekhäuser
Die vollständig erhaltene Stadtmauer besteht im Gegensatz zu den Stadttoren weitgehend aus Feldstein. Bedingt durch die letzte Eiszeit ist dieses Baumaterial hier in Mecklenburg unzählig in Form von Findlingen auf den Feldern anzutreffen.
Neben den vier repräsentativ gestalteten Toranlagen sind es vor allem die in regelmäßigen Abständen in die Stadtmauer eingelassenen Wiekhäuser, die das Bild der Neubrandenburger Stadtbefestigung prägen. Sie treten auf der Feldseite aus der Flucht der Stadtmauer und dienten bei gleichzeitigem Fehlen eines Wehrgangs zur Verteidigung. Ihre Fachwerkkonstruktionen sind jüngere Zutaten, die zu Wohnzwecken seit dem 17. Jahrhunderts erfolgten. Sie machen den besonderen Reiz des Gesamtensembles aus.
Der Typus der Wiekhäuser ist vor allem im nordöstlichen Deutschland anzutreffen, aber auch am Niederrhein bekannt. Ein vergleichbarer Reichtum an Wiekhäusern findet sich in den brandenburgischen Städten Gransee und Templin.
Die vier Stadttore
Die Datierung und die Vortore
Unbestrittener Höhepunkt der über 700 Jahre alten Stadtbefestigung von Neubrandenburg sind die in ungewöhnlicher Vollständigkeit erhaltenen vier Toranlagen mit ihren repräsentativen Schaufassaden und Giebeln. Sie offenbarten jedem nahenden Besucher die Wehrhaftigkeit der Stadt sowie den Reichtum der Bürgerschaft. Erhalten haben sich nicht nur die in die Stadtmauer eingelassenen Tortürme, sondern auch drei der ihnen vorgelagerten Vortore und die verbindenden Zwingermauern.
Die Chronologie der Torbauten möchte ich hier nur grob umreißen, da sie wohl nicht jedem Reisenden im Detail von Interesse erscheinen mag. Die Datierungen sind zum Teil dendrochronologisch belegt. Dabei sind drei der Tortürme im Laufe des 14. Jahrhundert entstanden. Lediglich das Neue Tor ist erst ins späte 15. Jahrhundert zu datieren. Das Vortor des Friedländer Tores stammt vom Anfang des 14. Jahrhunderts, während die beiden anderen in der Mitte des 15. Jahrhunderts zu verorten sind.
Gehen wir die Stadttore im Uhrzeigersinn ab und starten dabei im Süden.
Stargarder Tor
Das Stargarder Tor besitzt ein Vortor, das demjenigen am Treptower Tor nahezu gleicht. Die Abbildung des einen oder anderen ziert wohl nahezu jeden touristischen Führer über Neubrandenburg. Die Feldseite ist mit Maßwerkblenden, Fialen und krabbenbesetzten Wimpergen äußerst reich gestaltet. Die Komposition ist ohne Zweifel ein Höhepunkt spätgotischer Backsteinarchitektur.
Doch auch die Stadtseite des Torturms ist mit seinen hohen Blenden von besonderer Wirkung. Ihnen sind Terrakottafiguren eingefügt, die in ihrer Symbolik nicht restlich geklärt sind. Am überzeugendsten erscheint die Deutung als die neun Engelchöre.
Treptower Tor
Das Ensemble aus Torturm, Zwingermauern und prachtvollem Vortor wirkt am Tretpower Tor vielleicht am stimmungsvollsten von allen vier Tore, trotz oder gerade weil an der Südseite mit Telegraphenamt und Fachwerkanbau neuzeitliche Zutaten die Szenerie beleben. Die Gestaltung des Vortores mit seinem filigranen spätgotischen Formenschatz erscheint wie eine fast exakte Kopie der Situation am Stargarder Tor.
Der Torturm ist der höchste der vier Neubrandenburger Stadttore. Seine Stadtseite ist reich mit Maßwerkblenden gegliedert, die teilweise frei vor dem Grund stehen und auf diese Weise eine mehrschichtige Wandgestaltung ausbilden.
Friedländer Tor
Das Friedländer Tor besitzt das älteste Vortor der Stadt, zeigt sich aber in seiner Gesamtwirkung bescheidener als die Anlagen am Stargarder und Treptower Tor. Charakterskitisch – und somit von den anderen Toranlagen dadurch unterscheidbar – ist ein im 16. Jahrhundert vorgebauter Halbrundbau, ein Rondell. Seine fortifikatorische (wehrhafte) Funktion belegt er eindrucksvoll mit zahlreichen Schießscharten. Solche Anlagen sind der Entwicklung von Feuerwaffen und Geschützen geschuldet, denen mittelalterliche Befestigungsanlagen nicht mehr gewachsen waren.
Neues Tor
Das Neue Tor ist nicht nur das jüngste der vier Stadttore, sondern ist auch abseits der mittelalterlichen Hauptverkehrswege aus der Stadt von untergeordneter Bedeutung gewesen. Das Vortor hat sich nicht erhalten. Am stadtseitigen Giebel existieren acht Terrakottafiguren, die im engen Zusammenhang mit der fast identischen Darstellung am Stargarder Tor stehen.
Abstecher zur Marienkirche
Kein Besuch in Neubrandenburg, ohne einen Blick auf die Hauptpfarrkirche St. Marien zu werfen! Auf dem kürzesten Weg erreicht man sie von Süden, wenn man vom Stargarder Tor eine kurzen Abstecher Richtung Zentrum der Stadtanlage wagt.
Die Kirche ist durch Brände und Kriegszerstörungen ihrer Pfeiler und Gewölbe beraubt und wurde als Konzertkirche einer neuen Nutzung zugeführt. Insofern ist ein Blick ins Innere für die meisten Besucher aus den Spuren der Backsteingotik nur von mäßigem Interesse. Umso mehr entlohnt die Betrachtung des Ostgiebels. Er steht mit seinen Formen stilistisch den Vortoren am Stargarder und Treptower Tor sehr nahe und dürfte für sie vorbildhaft gewirkt haben. Seine filigranen, vor dem Mauergrund freistehenden Maßwerkformationen besitzen eine Extravaganz, die nur noch vom verwandten Giebel an der Marienkirche in Prenzlau erreicht wird.
Was für ein würdiger Abschluss unseres Rundganges durch das mittelalterliche Neubrandenburg!