Neue Formen des Zusammenlebens
Zwischen Malmö und Lund in Südschweden liegen der Ort Hjärup und von diesem durch eine Bahnlinie getrennt eine Siedlung namens Jakriborg. Mit seinen verwinkelten Gassen, den bunten, meist giebelständigen Häusern und einer Stadtmauer mit Wehrgang wirkt sie auf den ersten Blick wie ein Städtchen mit mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wurzeln. Doch der Eindruck täuscht. Spätestens, wenn man bemerkt, dass die Stadtmauer als Schallschutz für die Bahnlinie fungiert und der Ort in alle Himmelsrichtungen unvermittelt abgeschnitten wird, realisiert man, dass wir hier in keinem historischen Städtchen stehen.
Dieses einzigartige Projekt in Schweden, das in den 1990er Jahren entstand, ist dem New Urbanism zuzurechnen. Hierbei geht es darum, der Zersiedlung der Landschaft mit immer weiter ausladenden Wohnsiedlungen rund um urbane Zentren andere Siedlungskonzepte entgegenzusetzen. Im Mittelpunkt stehen dabei kurze Wege für die alltäglichen Aktivitäten und ausgeprägte nachbarschaftliche Beziehungen. Das beinhaltete explizit auch eine Mischnutzung der Siedlungen, die der strikten Funktionstrennung moderner Städte entgegensteht. Fahrrad und Fußgänger stehen bei der Konzeption der Verkehrswege im Fokus. Der Bewegung des New Urbanism geht es letztlich um neue Formen des Zusammenlebens, also um einen soziologischen Ansatz.
Aspekte der Architekturpsychologie
Zweifelsohne funktioniert dieser Ansatz, wenn man die Einschätzung der dort lebenden rund 500 Familien zugrunde legt. Und selbstverständlich hat auch die Architektur ihren Anteil daran, denn das Umfeld trägt entscheidend zum Wohlbefinden der Menschen bei, was auch wissenschaftlich nachweisbar ist. Dabei kommen Aspekte der Architekturpsychologie zum Tragen. Es gilt zu beachten, dass der Mensch und seine Bedürfnisse bei der architektonischen Ausgestaltung stets mitgedacht werden.
Umso mehr stellt sich mir die Frage, ob die Kopie einer historischen Stadt in so einem Konzept alternativlos ist. Schließlich können sich aus den Erkenntnissen der Architekturpsychologie durchaus auch ganze andere Lösungen der Architektursprache ergeben, die keinen Bezug zu klassischen Baustilen aufzeigen, ohne dass ich diese psychosozialen Ansätze vertiefen möchte. Mein Anliegen an dieser Stelle ist es vielmehr, auf Problemfelder hinzuweisen, die auf einer ganz anderen Ebene liegen, nämlich beim (un)kritischen Umgang mit unserem Kulturerbe.
Pseudohistorische Architektur aus der Retorte
Wer sich nicht mehr der Geschichte Jakriborgs auseinandergesetzt hat, könnte leicht zu dem Schluss kommen, sich in einer historischen Ortschaft mit gewachsenen Strukturen zu befinden. Auch die Patina an den Häuserfassaden und die Gestaltung des öffentlichen Raumes mit seinen Laternen, Sitzgelegenheiten und Hausbeschriftungen tut alles dafür, den Eindruck einer perfekt herausgeputzten Idylle aus vergangenen Zeiten nicht zu trüben. Nur wer eine gewisse Vorbildung mitbringt und etwas genauer hinschaut, wird feststellen, dass wir es hier mit Architektur aus der Retorte zu tun haben – als hätte man in einen Baukasten der historischen Architektur des Ostseeraumes gegriffen und geschaut, was man dabei Hübsches formen kann.
In die schwedische – ehemals dänische – Provinz Schonen passt dieses Straßenbild nur bedingt. Mit den giebelständigen Bürgerhäusern erinnert es eher an Stadtansichten Norddeutschlands. Die Nebenstraßen sind dagegen vielfach mit bescheideneren, traufständigen Bauten versehen, wie sie in dieser Form auch in Dänemark und Schonen stehen könnten. Baumaterial war offensichtlich Backstein, der schließlich geschlemmt wurde. Gelegentlich kommt bescheidener Fachwerkbau zum Einsatz. Auch das ist durchaus regionaltypisch umgesetzt und verstärkt den Eindruck einer historisch gewachsenen Ansiedlung.
In einem Umfeld, in dem ganze Ortschaften dieser Art auf grüner Wiese aus dem Boden gestampft werden, verkommen historische Architektur und ihre wertvolle Bausubstanz zur Beliebigkeit von Abziehbildern. Das Original wird spätestens dann entwertet, wenn solche Ideen zu Tausenden umgesetzt werden, bis unser kulturelles Erbe in der schieren Masse untergeht. Pseudomittelalterliche Stadtmauern mit Wehrgang sollten kein Synonym für gelungene Stadtbaukonzepte im 21. Jahrhundert darstellen. Zielführender wäre es, Altstädte, die durch Krieg und den Irrweg der autogerechten Stadt verunstaltet wurden, lebenswerter zu gestalten. Das kann man auch durch wissenschaftlich begleitete Rekonstruktionen und sensible historische Anlehnungen bzw. Ergänzungen erreichen, die aber als solche erkennbar bleiben. Ich möchte Jakriborg daher besser als experimentellen Weg, nicht als Vorbild für zukünftige städtebauliche Konzepte betrachten.
Ein paar spontane Gedanken:
Ich verstehe das Unbehagen aus der Sicht eines Kunsthistorikers sehr gut. Auch wenn die Häuser sicher nicht unattraktiv sind: ich als Architekt würde es nicht über mich bringen, bei einer neu angelegten Siedlung auf der grünen Wiese absichtlich unregelmäßig, schief, verwinkelt usw. zu bauen, um eine gewachsene Stuktur zu suggerieren, wo in Wirklichkeit keine ist. Das wäre auch völlig unhistorisch, denn so hätte zur Zeit der Vorbilder dieser Siedlung niemand gedacht. Das belegen die vielen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gründungsstädte, die meist zumindest einigermaßen regelmäßig sind. Im Grunde zeigt das, dass die Erbauer und die davon Begeisterten eine völlig oberflächliche Sicht auf historische Stadtbilder haben, aber kein Verständnis für das, was dahinter steht.
Ich bin ja sehr für das Wiederaufgreifen historischer Gestaltungsmittel, aber es muss schon eine reflektierte Verwendung sein, die nicht so tun kann, als ob z. B. die letzen 200 oder 500 Jahre einfach nicht existiert hätten. Z. B. die sogenannte Reformarchitektur hat das ja auch geschafft. Der bizarre Tiefpunkt in Jakriborg ist sicher die Lärmschutzwand in Gestalt einer Stadtmauer. Die Idee mag zwar zunächst naheliegend sein, ist aber völlig naiv und man hätte auch mit historistischen Mitteln passendere Lösungen finden können. Ironischerweise wurde da völlig die Angemessenheit ignoriert, die gerade in der historischen Architektur und Architekturtheorie doch eine so große Rolle spielt.
Die Frage, was von dieser Siedlung zu halten ist, läuft am Ende auch auf das Thema hinaus, was zeitgemäßes Bauen in einer pluralistischen und inzwischen oft kaum noch auf einen Nenner zu bringenden Gesellschaft überhaupt sein kann. Ehrlich gesagt bin ich da auch etwas ratlos, aber das hier dürfte wohl aus vielen Gründen kein verallgemeinerbarer Weg sein.
Vielen Dank für den qualifizierten Kommentar. Jakriborg ist sicher ein Projekt, das die Geister scheidet. Dabei sind die Ideen des New Urbanism grundsätzlich zu begrüßen, doch scheint man hier in der Umsetzung vielleicht über das Ziel hinaus geschossen zu sein. Als Kuriosum und Unikat scheint das Konzept aber zu funktionieren. Um solche Stadtbaukonzepte allerdings serienreif zu gestalten, bedarf es noch eines langen Weges.
Eigentlich geht das nur die Bewohner etwas an. Wenn die sich dort wohl fühlen – WARUM EIGENTLICH NICHT ? Aber alle scheinen sich zu erdreisten zu sowas eine Meinung zu haben, während der modernistische Schrott nie getadelt wird. Ich kenne Jakriborg aus eigener Anschauung und würde gern dort wohnen, wenn ich es mir leisten könnte. Stattdessen versuche ich meine Wahlheimat Lund – ein Ort mit über 1000-jähriger Geschichte – vor weiterer moderner Verschandelung im Innenstadtbereich zu retten.
Ich bin mir sicher, dass die Einwohner sich dort überwiegend wohlfühlen. Das ist ja auch gar nicht der Punkt. Den Ansatz, dass nur die dort Lebenden Architekturkritik üben dürfen, kann ich allerdings nicht nachvollziehen und ist auch realitätsfremd, denn das müsste dann ja für jegliche Architektur gelten. Und es gibt in der Tat eine Menge modernistischen Schrott, wie Sie es nennen. Dazu werden Sie in meinem Blog sogar weitaus mehr kritische Artikel finden. Oder hätte ich das dann auch nicht gedurft, weil es nur die Bewohner angeht?
Warum immer dieses tuntige Etepetetegetue, sobald jemand sich erdreistet historischen Vorbildernb nachzueifern ? Trostlose modernistische Massenproduktion muss sie interessanterweise nie für ihre Trostlosigkeit und Einfallslosigkeit rechtfertigen, denn das ist ja „zeitgenössisch“. Kunsthistoriker und modernisctische Architekten scheinen da in eienr unheiligen Allianz mit zweierlei Mass zu messen. Mir wäre es lieber dass diese historisierende Bauweise die Regel wäre und nicht die seltene Ausnahme, denn dieser Baustil tut den Menschen gurt. Ich habe noch nie gehört, dass ein Viertel wie Jakriborg zu einem sozialen Brennpunkt verkommen wäre ….
Ich habe diesen Kommentar jetzt mal freigeschaltet, möchte mich aber auf dieses Niveau eigentlich nicht weiter unterhalten. Nur so viel: Wenn Sie sich die Mühe machen würden, meine Artikel zu lesen, würden Sie darunter viele finden, die mit modernistischer Architektur scharf ins Gericht geht. Insofern ist Ihre Annahme, Kunsthistoriker und Architekten würden eine Allianz eingehen, bereits aus diesen Gründen durch die Realität widerlegt.