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Kurze Geschichte des Antisemitismus

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Antisemitisches Schild der NS-Zeit: Juden sind hier unerwünscht
Antisemitisches Schild der NS-Zeit, Quelle: United States Holocaust Memorial Museum

Einführung

Es wäre vermessen, zu glauben, in einem Blogartikel könne man dem Thema Antisemitismus in seiner ganzen Ausprägung gerecht werden. Dennoch erscheint es mir nicht vergebens, Grundzüge dieser unheilvollen Entwicklung zu skizzieren und dabei herauszustellen, dass die Judenfeindlichkeit des Nationalsozialismus eben nicht aus dem Nichts entstanden ist. Sie stellt lediglich den Höhepunkt einer langen diskriminierenden Tradition dar, die schließlich die Shoah als schlimmste Form des Judenhasses zur Folge hatte. Ich möchte daher auch einen chronologischen Einschnitt nach der Zeit der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Zeit vornehmen. Ebenso möchte ich darauf verzichten, die in der Forschung vielfach herausgearbeiteten Differenzierungen zwischen Antisemitismus, Antijudaismus, Judenfeindlichkeit etc. über Gebühr zu strapazieren.

Judenfeindlichkeit in vorchristlicher Zeit

Gegensatz religiöser Traditionen

Die Ursprünge judenfeindlicher Diffamierungen reichen bis in die hellenistische Zeit zurück, die durch die Eroberungen Alexanders des Großen im Vorderen Orient gegen Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. eingeleitet wurde. Das frühe Judentum ist geprägt durch eine lange Zeit griechischer und schließlich römischer Herrschaft. Im Zentrum des jüdischen Selbstverständnisses stehen die religiösen Traditionen, die sich aus der Thora bzw. den Fünf Büchern Mose ableiten lassen. Dazu gehören die Beschneidung, der Sabbat sowie das Verbot, Schweinefleisch zu verzehren.

Diese Normen wirkten in einer hellenistisch und später römisch geprägten Kultur ebenso fremd wie die jüdische Gottesvorstellung, die sich in ihrem Tempelkult ausdrückt, bei dem einem unsichtbaren und namenlosen Gott gehuldigt wird. Die griechische und römische Götterwelt war dagegen darauf ausgelegt, Götter anderer Völker zu vereinnahmen, sie zu integrieren. Diesen Tendenzen verschloss sich das Judentum gänzlich. Dadurch galten die Juden in dem sie umgebenden hellenistischen Wertekanon als andersartig, als nicht zugehörig.

Erstes Pogrom in Alexandria

Diese Sicht spiegelt sich in einer ganzen Reihe antisemitischer Gesetzesnormen und Dekrete wider. Das biblische Buch Esther, das wahrscheinlich um 300 v. Chr., also bereits in hellenistischer Zeit entstanden ist, aber in der Perserzeit spielt, legt dem persischen König Worte in den Mund, die die Juden aufgrund ihrer Andersartigkeit Verbrechen gegen die Menschheit und Menschlichkeit bezichtigen. Die einzige angemessene Antwort darauf sei die Vernichtung aller Juden.

Im hellenistischen Ägypten beschreibt der Historiker Hekataios von Abdera die Exodusgeschichte – das jüdische Fanal schlechthin – aus ägyptischer Sicht. Darin werden die Juden als menschenfeindlich, fremdenfeindlich und gottlos charakterisiert. Der ägyptische Priester Manetho und der griechische Historiker Diodurus Siculus stellen die Juden in ihrer Version des Exodus auf auffallend ähnliche Weise dar. Die ägyptische Darlegung der Exoduserzählung sollte in der Folge bestimmend sein für viele Formen des Antisemitismus. Es überrascht daher vielleicht auch nicht, dass das erste Pogrom gegen Juden im Jahre 37 n. Chr. in Alexandria stattfand, und zwar mit Unterstützung des römischen Präfekten.

Von Menschenfeindlichkeit und Gottlosigkeit

Als Erzfeind der Juden stilisiert sich Antiochos IV. Epiphanes, König eines hellenistischen Staates im Vorderen Orient aus der Dynastie der Seleukiden, heraus. Zum Reich gehörten auch Palästina und somit der jüdische Tempel in Jerusalem. Antiochos dichtete dem Judentum einen Eselskult, Menschenopfer und Kannibalismus an. Er verbot alle jüdischen Gebräuche und traf damit den Lebensnerv des Judentums. Der unsichtbare Gott der Juden wurde zu einer Gestalt grausamer Tempelkulte.

Der Vorwurf der Fremden- und Menschenfeindlichkeit, der Gottlosigkeit sowie der Verbreitung von Krankheiten waren in Zukunft die treibenden Elemente des Judenhasses. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch die griechische und römische Literatur. Tacitus übernimmt in seinen Schriften alle antijüdischen Vorurteile und Stereotype. So heißt es in seinem Exkurs über die Juden, sie seien „ein durch und durch abscheulicher Volksstamm“ und „die Lebensart der Juden ist absurd und verächtlich“.

Titusbogen Rom - Plünderung des jüdischen Tempels in Jerusalem
Relief am Titusbogen in Rom: Römischer Triumphzug nach der Zerstörung und Plünderung des jüdischen Tempels in Jerusalem im Jahre 70 n. Chr.

Judentum und frühes Christentum

Der Antagonismus zwischen Christentum und Judentum um die wahre Lehre ist bereits im Neuen Testament in den Briefen des Paulus herauszulesen. Das Matthäus-Evangelium benennt unmissverständlich die Juden – und zwar das ganze Volk und nicht nur die Hohepriester – als Schuldige an der Verurteilung und dem Kreuzestod Jesu. Diese Urschuld, die Erzsünde des Judentums wird in den folgenden Jahrhunderten ein stetiger Begleiter des christlichen Antisemitismus.

Antijudaismus bis hin zu Hasspredigten finden sich bei Chrysostomos, dem Erzbischof von Konstantinopel, aber auch bei den lateinischen Kirchenvätern Ambrosius von Mailand und Augustinus von Hippo. Ambrosius nötigte den oströmischen Kaiser Theodosius I. dazu, die Unterstützung bei der Wiedererrichtung durch Christen niedergebrannter Synagogen – in den Augen des Kirchenlehrers Häuser des Unglaubens und der Gottlosigkeit – zurückzunehmen. Augustinus wiederum schiebt den Juden unmissverständlich die Verantwortung für die Hinrichtung Jesu zu. Andererseits lehnt er eine Ausrottung des Judentums ab, da dieses für ewig als Zeugnis für die wahre Lehre des Christentums herhalten könne.

Auch die Gesetzgebung der Spätantike wurde zunehmend judenfeindlich, insbesondere in Ostrom unter Justinian I. Dabei mischten sich erstmals ökonomische Motive unter den theologischen Kanon von antijüdischen Stereotypen. Dadurch wurden Juden nach und nach aus dem öffentlichen und gesellschaftlichen Leben verdrängt. Der sich im 7. Jahrhundert ausbreitende Islam zeigte dagegen zunächst weitaus mehr Toleranz gegenüber dem Judentum als die römisch-christliche Spätantike. Dieser Umstand gerät angesichts der heutigen Verhältnisse gerne in Vergessenheit.

Das christliche Mittelalter

Kammerknechtschaft und Viertes Laterankonzil

Das europäische Mittelalter war geprägt von einer Ambivalenz aus Schutz und Unterdrückung gegenüber dem Judentum. Den Sonderstatus der Juden ließen sich die Herrscher in Europa durch besondere Abgaben und Eingriffsrechte für das Hab und Gut teuer bezahlen. In Deutschland zeigt sich diese besondere Beziehung in der Kammerknechtschaft, die erstmals 1090 unter Kaiser Heinrich IV. für die Juden in Worms bezeugt ist. Darin drückt sich ein Abhängigkeitsverhältnis aus, das sowohl das Zugeständnis von Privilegien als auch eine Form der persönlichen Knechtschaft für die Juden bedeutete.

Besonders stark tritt die Ausgrenzung des Judentums beim Vierten Laterankonzil von 1215 hervor, das von Papst Innozenz III. einberufen wurde. Juden waren häufig von den Zünften und somit den handwerklichen Berufen ausgeschlossen. Die damit verbundene Verlagerung der wirtschaftlichen Tätigkeit von Juden auf Geldgeschäfte, insbesondere auf den zinsbehafteten Geldverleih, nährte das Bild des Juden als habgierigen Wucherer. So wurden derartige Geschäfte zwischen Juden und Christen auf dem Laterankonzil scharf kritisiert, gerade weil das kanonische Recht Christen den Geldverleih gegen Zinsen verbot.

Weitere Artikel des Konzils untersagten die Ausübung eines öffentlichen Amtes sowie den sexuellen Kontakt zwischen Christen und Juden. Zudem wurde eine Unterscheidung der Juden in Form von Kleidervorschriften festgehalten. Auch wenn die Bestimmungen des Konzils in den unterschiedlichen Herrschaftsbereichen Europas nicht einheitlich Anwendung fanden, nimmt die mit ihnen verbundene Ausgrenzung der Juden somit zwei zentrale Aspekte des rassisch geprägten Antisemitismus der Nationalsozialisten vorweg: die „Rassentrennung“ und die öffentliche Stigmatisierung.

Verfolgung und Pogrome im Zuge der Kreuzzüge

Um die folgenden Geschehnisse zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass das Judentum aus theologischer Sicht den Stachel im Fleisch des Christentums darstellte und damit die Angst vor dem Rückfall ins Judentum stets vorhanden war. Es bedurfte lediglich einer Initialzündung, um die christlich-theologischen Vorurteile in Verfolgung und Vernichtung umschlagen zu lassen.

Im Zuge des Ersten Kreuzzuges ins Heilige Land, zu dem Papst Urban II. im Jahre 1095 aufrief, war es dann soweit. Viele Christen verstanden seinen Aufruf auch als Anlass, sich auch der Juden im eigenen Land zu entledigen. Der Zug nach Osten hinterließ in Europa eine Blutspur, die für viele jüdische Gemeinden die Vernichtung bedeutete. Die kirchlichen und staatlichen Autoritäten waren meist nicht in der Lage, das jüdische Leben gegen die aufgehetzte Bevölkerung zu schützen. Zahlreiche Quellen berichten auch davon, dass sich jüdische Familien für den Freitod entschieden, um nicht den Massakern zum Opfer zu fallen. Ähnliche Szenen spielten sich beim Zweiten und Dritten Kreuzzug ab.

Legendenbildung um Ritualmorde und Hostienfrevel

Besonders nachhaltig verfestigte sich in Europa der Vorwurf von Ritualmorden. Diese Legende stellte die angebliche Tötung eines christlichen Kindes als Wiederholung der Kreuzigung Jesu dar. Erstmals bezeugt ist sie 1144 im englischen Norwich und verbreitete sich von dort in ganz Europa. 1171 folgte Blois an der Loire in Frankreich, 1235 Fulda, 1453 Trient, um nur einige bekannte Vorgänge zu nennen. Auch wenn in vielen Fällen die Obrigkeiten die Juden von dem Vorwurf entlasten konnten, schütze sie das nicht vor den Massakern und den Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen.

Ritualmord-Legende: Martyrium des Simon von Trent
Ritualmord-Legende: Martyrium des Simon von Trent, Darstellung aus der Nürnberger Weltchronik von Hartmann Schedel, 1493

Eine andere Legende warf den Juden Hostienfrevel vor, nach der jene Hostien stehlen, um sie zu schänden. Damit seien es nicht nur die christlichen Kinder, sondern der Leib Christi selbst, der das Martyrium immer wieder durchleben müsse. Besondere Bekanntheit erlangte ein angeblicher Fall von Hostienfrevel im Jahre 1290 in Paris. In Deutschland wurde die Legende erstmals 1298 aufgegriffen und verbreitet sich vor allem in Franken, Bayern und Österreich. Das Ergebnis waren flächendeckende Pogrome und die Vernichtung zahlreicher jüdischer Gemeinden.

Wirtschaftliche Motive und Talmudverbrennungen

Der Judenhass verfestigte sich vor allem in Deutschland derart, dass jeder Anlass dazu genutzt wurde, sich der jüdischen Mitbürger zu entledigen. Dabei spielten theologische Gründe vielfach nur noch vordergründig eine Rolle. 1338 kam es zur Auslöschung der jüdischen Gemeinde in Deggendorf, an der sich auch der Stadtrat beteiligte. Herzog Heinrich von Landshut billigte dies nachträglich und stellte fest, dass sich damit auch alle jüdischen Schuldforderungen in Luft aufgelöst hätten.

Im Zusammenhang mit den Vorwürfen der Ritualmorde und des Hostienfrevels stehen auch die Talmudverbrennungen, die sich vor allem nach einem derartigen Vorfall in Paris aus dem Jahre 1242 vielfach bis in die Neuzeit wiederholten. Der Talmud als bedeutendes Schriftwerk des Judentums blieb den Christen nicht zuletzt aufgrund der hebräischen oder aramäischen Sprache weitgehend verschlossen. Das nährte den Verdacht, sein Inhalt diene dazu, das Christentum anzugreifen und zu schmähen. Im Zusammenspiel mit den Vorwürfen der Ritualmorde und des Hostienfrevels war dies stets eine hochexplosive Gemengelage, die zu zahlreichen Bücherverbrennungen führte.

Talmud-Druck von Daniel Bomberg und Ambrosius Froben
Talmud-Druck von Daniel Bomberg und Ambrosius Froben im Jüdischen Museum der Schweiz, datiert in die Jahre 1522, 1528 und 1578 – Quelle: LGLou bei Wikipedia – Lizenz: CC BY-SA 4.0

Pestpogrome

Wirtschaftliche Erwägungen bei der Ermordung und Vertreibung der Juden rückten im Spätmittelalter immer mehr in den Vordergrund. Zu den verheerendsten Pogromen kam es während der Pestepidemie in Europa Mitte des 14. Jahrhunderts. Da man die Ursachen für die Krankheit nicht erklären konnte, fand man in den Juden schnell Sündenböcke. Der Vorwurf der Brunnenvergiftung, die die Krankheit auslösen würde, war geboren und verbreitete sich aus Frankreich und der Schweiz kommend rasant in Mitteleuropa. Am Ende existierte keine bedeutende jüdische Gemeinde mehr in Deutschland.

Verbrennung der Juden in der flandrischen Chronik Antiquitates Flandriae
Darstellung der Verbrennung der Juden in der flandrischen Chronik Antiquitates Flandriae, um 1353

Vertreibung aus West- und Mitteleuropa

Parallel setze eine Vertreibungswelle in West- und Mitteleuropa ein, die von den Landesherren ausging, wenn diese keinen fiskalischen Nutzen mehr in der Tolerierung der Juden sahen. Generell war mit der Vertreibung der Einzug des jüdischen Vermögens und die Annullierung der Schuldscheine bzw. die Übertragung der Schuld verbunden, was besonders lukrativ war. Ziele der Fliehenden waren vor allem Osteuropa und das Osmanische Reich.

Besonders radikal war die Vertreibung in den Ländern, die durch eine Zentralgewalt regiert wurden. König Eduard I. verfügte 1290 die Ausweisung aller Juden aus England. Das Ergebnis war ein für Jahrhunderte von Juden entvölkertes Land. Philipp II. erließ 1182 in Frankreich ein Edikt, das alle Juden ausweisen sollte. Diese fanden allerdings teilweise bei den zahlreichen Feudalherren im Land eine neue Bleibe. Eine zweite Ausweisung im Jahre 1306 unter Philipp IV. war ebenso wenig von Nachhaltigkeit begleitet. Erst die von König Karl VI. im Jahre 1394 veranlasste dritte Ausweisung hatte aufgrund der gestärkten zentralistischen Gewalt einschneidenden Folgen für das Judentum in Frankreich.

In dem in zahlreiche Territorien zersplitterten Deutschland kam es nie zu einer umfassenden Judenvertreibung. Vielmehr ist die Zeit nach den Pestpogromen im Spätmittelalter immer wieder durch regionale Ausweisungen, Neuansiedlungen oder Rückkehren – je nach politischer Konstellation – geprägt. In Spanien und Portugal ließen sich viele Juden zwangsweise taufen, doch mit dem Ende der Reconquista 1492 wurde mit Hilfe der katholischen Inquisition eine „judenfreie“ iberische Halbinsel geschaffen.

Das Bildmotiv der Judensau

Bildlicher Ausdruck des Judenhasses war vor allem das Motiv der Judensau, das sich vor allem in Deutschland verbreitete. Es ist seit Beginn des 13. Jahrhunderts an sakralen Objekten als Skulptur anzutreffen und findet sich mit der Erfindung des Buchdrucks seit der Mitte des 15. Jahrhunderts auch als Druckgrafik. Als Karikatur wurde es auch in der Neuzeit immer wieder reaktiviert. Der Umgang mit dieser fragwürdigen Form des Kulturgutes ist bis heute umstritten.

Die Darstellungen der Judensau vereinen alle antisemitischen Klischees jener Zeit. Gezeigt werden dabei in verschiedenen Varianten Juden in Interaktion mit einer Sau, dem weiblichen Schwein, das im Judentum als unreines Tier gilt. Allein daran ist der verhöhnende Charakter der Spottdarstellungen erkennbar. An Derbheit lassen diese kaum Fragen offen: Die gezeigten Juden reiten auf der Sau, saugen an ihren Zitzen, heben ihren Schwanz hoch und schauen in ihren After oder lecken daran. Gelegentlich sammeln sie die Exkremente der Sau.

Judensau: Holzschnitt um 1470
Das Bildmotiv der Judensau: Holzschnitt um 1470

Reformation, Humanismus und Aufklärung

Luther und das Judentum

Die frühen Schriften des Reformators Martin Luther zeugen zunächst von missionarischen Absichten gegenüber den Juden. Doch je mehr sich herausstellte, dass dies eine Illusion bleiben sollte, umso mehr wandelt sich Luthers Einstellung zum Judentum. Seine zunächst gemäßigten Worte münden in seinen späten Schriften in Hasstiraden, die an die antijudaistischen Stereotype der mittelalterlichen Theologie anknüpfen. Letztlich spricht er den Juden das Menschsein ab und glaubt, sie seien vom Teufel besessen.

In seiner 1543 erschienenen Hetzschrift „Von den Juden und ihren Lügen“ greift Luther bekannte mittelalterliche Klischees auf: Ritualmord, Hostienschändung, Brunnenvergiftung. Er fordert die Verbrennung von Synagogen, die Zerstörung jüdischer Häuser, den Einzug des Vermögens und letztlich die Vertreibung der Juden. Luthers Antijudaismus trug nicht zuletzt aufgrund des Buchdrucks jahrhundertelang Früchte und diente noch den Nationalsozialisten als Rechtfertigung für ihre antisemitischen Taten.

Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen
Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen, erschienen 1543 – Quelle: Thomas Ritter, Jüdisches Museum Westfalen Dorsten – Lizenz: CC BY-NC-SA 4.0

Die theologische bzw. historische Auseinandersetzung mit Luthers Ansichten zum Judentum wurde zuletzt durch das Lutherjahr 2017 entscheidend vorangetrieben. Die Debatte um seinen Antijudaismus führte nicht zuletzt zu einer öffentlichen Kontroverse über die Würdigung des Reformators und das Gedenken an sein Wirken in Form von Denkmälern oder Straßen- und Platzbenennungen.

Die Philosophen der frühen Neuzeit

Mit dem Humanismus brach eine neue Ära in der Geschichte des Antisemitismus an. Erste wissenschaftliche Prinzipien bei dem Versuch des Verständnisses der Religionen führten zumindest in Ansätzen dazu, dass man sich sachlicher mit dem Judentum auseinandersetze. Eine Vorreiterstellung hatte dabei der Humanist und Philosoph Johannes Reuchlin. Gleichzeitig hielt man aber an dem unumstößlichen Grundsatz der Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Judentum fest.

Die Philosophen der Aufklärung sahen in den Religionen einen Hort der Unwissenheit, des Irrtums und des Aberglaubens. Das galt natürlich auch für das Judentum, aus dem die christliche Lehre hervorgegangen ist. Voltaire urteilt über die Juden:

Schließlich wird man in ihnen nur ein unwissendes und barbarisches Volk finden, das schon seit langer Zeit die schmutzigste Habsucht mit dem verabscheuungswürdigsten Aberglauben und dem unüberwindlichsten Hass gegenüber allen Völkern verbindet, die sie dulden und an denen sie sich bereichern. Jedoch, man soll sie nicht verbrennen.

Rechtliche Gleichstellung und bürgerliche Gesellschaft

Insgesamt bedeutete aber das Zeitalter der Aufklärung für jüdische Mitbürger einen Abbau der Diskriminierung und die Hinwendung zu einer rechtlichen Gleichstellung. In England und Frankreich setzte dieser Prozess frühzeitig ein. Insbesondere die Französische Revolution von 1789 mit ihrem Prinzip der Gleichberechtigung bedeutete für Juden mehr Grundrechte.

In Deutschland verlief die Entwicklung langsamer und vor allem nicht stringent ab. Positive Impulse für die Bürgerrechte brachten die Revolution von 1848 und die folgende Reichsverfassung. Konservative Reaktionen und Gegenbewegungen sahen aber das Judentum als Staat im Staat, als Gefahr und Fremdkörper im deutschen Volk. Vor allem die Burschenschaften mit ihrer deutschnationalen Ideologie wetterten weiterhin gegen die Emanzipation der Juden in der bürgerlichen Gesellschaft.

Antisemitismus im Kaiserreich

Nationalismus und Wirtschaftsantisemitismus

Der im Kaiserreich erstarkte Nationalismus und die Politisierung des Antisemitismus führten zur Verfestigung einer judenfeindlichen Grundeinstellung in der Gesellschaft – trotz der rechtlichen Gleichstellung von Juden. Die bekannten antijüdischen Stereotype mit der aufkommenden Rassenlehre wurden zunehmend zum rassisch geprägten Antisemitismus kombiniert. Populär wurden auch die Verschwörungstheorien über eine angebliche jüdische Weltherrschaft.

In den Mittelpunkt der Judenfeindlichkeit rückte erneut der Talmud. Als Vordenker und Ideologen fungierten die katholischen Theologen August Rohling mit seinem Pamphlet „Der Talmudjude“ sowie Jakob Ecker mit dem Machwerk „Der Judenspiegel im Lichte der Wahrheit“. Auf österreichischer Seite stand der Wiener Pfarrer Joseph Deckert seinen deutschen Pendants in nichts nach. Unter ihrem großen Einfluss in bürgerlichen Kreisen lebte auch die Ritualmordlegende wieder auf, die zu einer Welle von Anklagen gegen Juden am Ende des 19. Jahrhunderts führte. Die Prozesse endeten freilich in der Regel mit einem Freispruch.

Der Börsenkrach 1873 und die folgende Depression führten zudem zu einer zunehmenden Schuldzuweisung an die im Geld- und Kreditgeschäft tätigen Juden. Besonders erfolgreich agitierte in dieser Hinsicht der Verleger Otto Glagau, der das Judentum für die Wirtschaftskrise und den moralisch-kulturellen Verfall Deutschlands verantwortlich machte.

Judenfeindlichkeit im völkischen Kontext

Der preußische Hofprediger Adolf Stoecker greift den Vorwurf des Volkes im Volke wieder auf und ist damit der erste, der sich dem rassistisch-völkischen Antisemitismus zuwendet. Zugleich besaß er als Repräsentant des kaiserlichen Hofes in Berlin mit seinen Reden den entsprechenden Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung:

Die Juden sind ein Volk im Volke, ein Staat im Staate, ein Stamm für sich unter einer fremden Race. Alle Einwanderer gehen zuletzt in dem Volke auf, unter welchem sie wohnen; die Juden nicht. Dem germanischen Wesen setzen sie ihr ungebrochenes Semitenthum, dem Christentum ihren starren Gesetzescultus oder ihre Christusfeindlichkeit entgegen.

In den Universitäten war es vor allem der Historiker Heinrich von Treitschke, der den Antisemitismus auf eine wissenschaftliche Ebene zu heben versuchte, wodurch Judenfeindlichkeit auch in einigen akademischen Kreisen salonfähig wurde. Er prägte die bis in die NS-Zeit schlagkräftige Parole „Die Juden sind unser Unglück!“.

Rassentheorien und rassistischer Antisemitismus

Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt zur endgültigen Verquickung von Rassismus und Antisemitismus. Zahlreiche Autoren und Publizisten wie Eugen Dühring, Theodor Fritsch und Housten Stewart Chamberlain betätigten sich darin. Dabei liest sich Dührings Vorschlag von jüdischen Sondergesetzen sowie Ghettoisierung und Deportationen von Juden, die er bereits 1883 äußerte, wie eine frühe Vorwegnahme nationalsozialistischer Ideen. Chamberlains „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ von 1899 erschien in zahlreichen Auflagen und wurde zum ideologischen Lehrstück der völkischen Bewegung und des rassistischen Antisemitismus in Deutschland.

Wie groß der Zuspruch für die antisemitischen Rassenideologien in der Gesellschaft war, zeigt der Zulauf zum Alldeutschen Verband, der zu den einflussreichsten Organisationen des völkischen Spektrums zu zählen ist. Ihm gehörten 1905 101 Vereine mit insgesamt 130.000 Mitgliedern an. Der Verband radikalisierte sich ab 1903 und unter dem von 1908 bis 1939 amtierenden Vorsitzenden Heinrich Claß. In seinen unter einem Pseudonym veröffentlichten Schriften fordert er die Verhinderung jüdischer Einwanderung, die Ausweisung aller Juden ohne Bürgerrecht, den Ausschluss aller Juden von öffentlichen Ämtern und den Einzug des Wahlrechts. Um die „Gesundung unseres Volkslebens“ zu erreichen, müsse nicht nur die Religion, sondern die „Rassenangehörigkeit“ berücksichtigt werden. Claß‘ Programm präsentiert sich wie eine Vorlage der Rassengesetzgebung, wie sie schließlich von den Nationalsozialisten umgesetzt wurde.

Weimarer Republik und NS-Zeit

Organisierter Antisemitismus

Mit der Rassentheorie war eine neue Qualität des Antisemitismus geboren, der in der Weimarer Republik seinem vorläufigen Höhepunkt entgegenstrebte. Zahlreiche radikale Institutionen, Organisationen und Verbände hatten den rassistischen Antisemitismus in ihren Programmen fest verankert. Besonders aktiv zeigte sich der „Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund“ mit seinen im Jahre 1922 erreichten 600 Ortsgruppen und 200.000 Mitgliedern. Die judenfeindlichen Geheimbünde namens „Germanenorden“ und „Thule-Gesellschaft“ wirkten dabei bis in die bürgerliche Gesellschaft hinein. Seit 1923 erschien „Der Stürmer“ als die führende antisemitische Wochenzeitung mit hetzerischen und propagandistischen Inhalten.

Unter den Parteien war auch die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) neben der NSDAP stark antisemitisch ausgerichtet. Im Parteiprogramm der 1920 gegründeten NSDAP hieß es unmissverständlich:

Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.

Auch das Militär war ein Pool antisemitischer Strömungen. Hans Knodn, ein Angehöriger des Schützenregiments 41 verfasste 1920 die Denkschrift „Lösung der Judenfrage“, die nicht nur im Titel, sondern auch im Inhalt wie die Vorlage für die 22 Jahre später auf der Wannseekonferenz gefassten Beschlüsse zur „Endlösung der Judenfrage“ wirkte.

Antisemitismus in der christlichen Kirche

Durch das religiöse Element im Spektrum der Judenfeindlichkeit waren auch die beiden großen christlichen Konfessionen ein entscheidender Faktor bei der Prägung einer antisemitischen Gesellschaft. Dabei tat sich vor allem die protestantische Kirche mit der Interpretation eines völkisch-germanischen Christentums hervor. Wichtigste Glaubensbewegung in diesem Kontext waren die 1931 in Thüringen gegründeten „Deutschen Christen“, die für die Reinheit des „germanischen Blutes“ eintraten. In den von ihnen beherrschten Landeskirchen führten sie den Arierparagraphen ein, der Christen jüdischer Herkunft von allen kirchlichen Ämtern ausschloss.

Die Protokolle der Weisen von Zion und Hitlers Mein Kampf

Als Nachweis für die Existenz eines „Weltjudentums“ verbreiteten sich „Die Protokolle der Weisen von Zion“ vor allem nach dem Ersten Weltkrieg. Dabei handelt es sich um eine Programmschrift, die vorgibt, die Pläne jüdischer Weltverschwörer wiederzugeben. Sie erschien erstmals 1903 in Russland und wurde später in zahlreichen Ländern neu aufgelegt. Noch heute dient das Machwerk in arabischen Ländern als Instrument des Antizionismus und Antisemitismus.

Adolf Hitlers „Mein Kampf“ lieferte schließlich die finale ideologische Grundlage für den Judenhass in Deutschland. Das Pamphlet wurde millionenfach gedruckt und drang in die letzten Winkel der Gesellschaft. Hitler rief den Endkampf gegen die jüdische Rasse und die jüdische Weltherrschaft aus. Über den Juden urteilt er:

Er ist und bleibt der typische Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt. Die Wirkung seines Daseins aber gleicht ebenfalls der von Schmarotzern; wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab.

Und auch der Vorwurf der Blutschande ist dort zu vernehmen:

Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet und damit seinem, des Mädchens Volke raubt. Mit allen Mitteln versucht er die rassischen Grundlagen des zu unterjochenden Volkes zu verderben.

Der letzte Akt am Vorabend der Shoah

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten folgte das letzte Kapitel auf dem Weg zur systematischen Massenvernichtung jüdischen Lebens in Deutschland und Europa. Die Stationen der Arisierung waren Judenboykotte, die Nürnberger Gesetze, die Novemberpogrome 1938 und schließlich die Wannseekonferenz, bei der die „Endlösung der Juden“ unter der Leitung des SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich in die Praxis überführt wurde.

Die Nürnberger Gesetze
Schematische Darstellung der Nürnberger Rassegesetze

Die Nürnberger Gesetze, die Anfang 1936 in Kraft traten, setzen auf rechtlicher Ebene um, was antisemitische Ideologen in den letzten Jahren auf Grundlage der Rassentheorie forderten: die Unterscheidung zwischen Reichsbürgern deutschen Blutes und Staatsbürgern minderen Rechts, den Juden. In der „Reichskristallnacht“ wurden unzählige Synagogen – auch in Österreich – in Brand gesetzt und jüdische Geschäfte, Altersheime, Krankenhäuser und Kinderheime zerstört. Es war der finale Schlag gegen jüdisches Gemeindeleben. Am Ende dieses menschenverachtenden Irrsinns standen Ghettos wie in Warschau, die Vernichtungslager wie Auschwitz und die Ermordungen von schätzungsweise 6 Millionen europäischen Juden.

Pogromnacht 1938 Hannover
Brennende Synagoge: Pogromnacht November 1938 in Hannover

Schlussgedanke

Es ist nicht einfach, am Ende eines solchen Höllenritts durch die Abgründe menschlichen Denkens und Handels einen halbwegs angemessenen Kommentar zu hinterlassen. Der Überblick, der gewiss keine neuen Erkenntnisse mit sich bringt, zeigt aber in seiner komprimierten Struktur recht anschaulich, dass der antisemitische Terror der NS-Zeit nicht aus sich selbst geboren wurde, sondern eine über 2000 Jahre alte Vorgeschichte besitzt, die viele Aufs und Abs kennt. Dabei kommt es immer wieder zu Verschiebungen in der Motivlage – Überlappungen eingeschlossen. Der Antisemitismus ist in seiner frühen Ausprägung vor allem theologisch zu deuten; im Spätmittelalter mischen sich wirtschaftliche Ambitionen darunter. Rassistisch geprägt ist die Judenfeindlichkeit schließlich seit dem späten 19. Jahrhundert.  

Erschreckend ist, dass manche Mechanismen bis heute nicht an Aktualität verloren haben. Noch immer ist Judenhass in bestimmten Kreisen der Gesellschaft virulent vorhanden, wie der Anschlag in Halle vor einigen Jahren eindringlich verdeutlichte. Die Covid-Pandemie hat alte antijüdische Verschwörungsmythen wie die Brunnenvergiftung oder die angestrebte Weltherrschaft in manchen Kreisen wieder salonfähig gemacht.

Literatur-Tipps zur Vertiefung:

Peter Schäfer, Kurze Geschichte des Antisemitismus, München 2020
Peter Longerich, Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte. Von der Aufklärung bis heute, München 2021
Trond Berg Eriksen / Hakon Harket / Einhart Lorenz, Judenhass. Die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart, Göttingen 2019

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