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Ein ehemaliges Kloster als Museumsquartier
Lübeck war im Spätmittelalter nicht nur das Haupt der Hanse und eine der bedeutendsten Handelsstädte Europas, sondern – daraus resultierend – ein Zentrum der Retabelkunst und der Tafelmalerei. Es überrascht daher nicht, dass man mitten in der Altstadt mit dem St. Annen-Museum eine Institution antrifft, die Einblicke in die Kulturgeschichte dieser Epoche gewährt. Mit dem St. Annen-Kloster, das für die Unterbringung der unverheirateten Töchter Lübecker Kaufleute entstand, ist zudem ein Originalschauplatz des Lebens in einer spätmittelalterlichen Stadt als Museumsquartier gewählt worden. Es verleiht der Ausstellung die ganz besondere Atmosphäre mit Kreuzgang, Gärten und Innenhöfen – eine Insel der Besinnung in der hektischen Großstadt.
Das Museum selbst ist zweigeteilt. Das Untergeschoss zeigt in klassischer Weise Altäre und Skulpturen vom 13. bis zur ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die primär aus Lübecker Werkstätten stammen. Die Qualität und die Quantität der Sammlung sind dabei bemerkenswert. Komplettiert werden die Exponate durch spätmittelalterliche liturgische Gewänder. Im Obergeschoss präsentiert sich die Ausstellung erfrischend andersartig. In einem Rundgang durch 22 Räume wird die bürgerliche Wohnkultur Lübecks vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert chronologisch inszeniert.
Schnitzaltäre und andere sakrale Kunst
Lübecker Flügelretabel bis ins frühe 15. Jahrhundert
Doch starten wir zunächst im Erdgeschoss, wo uns nach Eintritt in den Kreuzgang 14 Stuckfiguren aus der Zeit um 1230 begrüßen. Sie gehörten vermutlich zu den romanischen Chorschranken in der Lübecker Marienkirche und sind vergleichbar mit ihren berühmten Pendants in der Halberstädter Liebfrauenkirche. Beachtlich auch ein Andachtsbild mit dem gegeißelten Christus aus der Zeit um 1410, auch wenn die Marterwerkzeuge verloren sind. In einem angrenzenden Raum zieht der weit ausladende ehemalige Hochalter der Lübecker Aegidienkirche (Grönauer Altar) den Blick auf sich. Er entstammt einer flandrischen Werkstatt und wird um 1430 datiert.
Beim weiteren Rundgang geht in der Fülle der Kunstwerke ein Kleinod fast unter: der Warendorp-Altar aus dem Lübecker Dom. Es handelt sich dabei um den ältesten erhaltenen Flügelaltar in Lübeck aus dem 2. Viertel des 14. Jahrhunderts. Das ungewöhnliche Bildprogramm zeigt im Mittelschrein den von Personifikationen christlicher Tugenden Gekreuzigten. Herausstechend präsentiert sich ebenso der Altar der Zirkelbruderschaft (um 1430) mit seinem aus Sandstein gefertigten Mittelschrein.
Die Altarkunst um 1500
Im ehemaligen Remter reihen sich schließlich diverse Altarretabel als ein weiterer Höhepunkt der Ausstellung entlang der Wände. Hier sind wir in der letzten Phase spätmittelalterlicher Altarkunst um 1500 angekommen. Als aufwändigste Stücke des Raumes sind aufzuzählen: ein Fronleichnamsretabel, ein Maria Magdalenen-Altar sowie ein Thomasaltar aus der Lübecker Burgkirche, zudem das Lukasretabel aus der Katharinenkirche, allesamt Doppelflügel-Retabel. Am letzteren wirkte als Maler Hermen Rode mit, der zu den bedeutenden Lübecker Künstlerpersönlichkeiten des Mittelalters zu zählen ist. Den überaus reich geschnitzten Szenerien im geöffneten Zustand der Altäre stehen die nicht minder qualitätvollen Malereien der Außenflügel gegenüber. Zudem zeigen alle Altaraufsätze den Trend zu hochaufragenden und tiefen Schreinen des ausgehenden Spätmittelalters. Da ist es umso schmerzlicher, dass vom Altar der Schonenfahrer (ehemals in der Marienkirche aufgestellt) von Bernt Notke nur noch die Außenflügel überkommen sind.
Die Fülle und Qualität der Altarretabel ist auch in den folgenden Räumen so gewaltig, dass es mir nicht möglich ist, alle entsprechend zu würdigen. Eine Erwähnung wert scheint mir ein filigraner Wurzel-Jesse-Altar, erneut aus der Burgkirche sowie ein vielteiliger Marienaltar, der sich ganz der Verehrung der Gottesmutter widmet. Damit sind wir aber auch im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts am Ende der Entwicklung der Schnitzaltäre angelangt. Motive, Typen und Auftraggeber ändern sich mit der beginnenden Reformation. Künstler wie Hans Kemmer treten nun mit der frühen Renaissancemalerei in den Vordergrund. Das St. Annen-Museum widmet ihm einen ganzen Raum.
Passionsaltar des Hans Memling
Und da ist noch in einem separaten Raum der Passionsaltar von Hans Memling, der 1491 durch die Lübecker Kaufmannsfamilie Greverade für den Dom gestiftet wurde. Wir übertreiben nicht, wenn wir konstatieren, dass wir mit dem fünfflügeligen Wandelaltar das kostbarste Kunstwerk Lübecks vor Augen haben. Der Maler war einer der ganz Großen in der altniederländischen Malerei. Auf der Festtagsansicht stellte er die Kreuzigung Christi dar, die gerahmt wird von weiteren Passionsszenen auf den Flügeln. Memling erzählt das Heilsgeschehen dabei äußerst dynamisch. Die einzelnen Szenen fließen ineinander und werden nicht, wie lange in der Tafelmalerei üblich, von einer Rahmenkonstruktion unterteilt. Es handelt sich damit um eine Simultandarstellung.
Die Sonntagsseiten des Altars zeigen vier große stehende Heilige: Blasius, Johannes der Täufer sowie Hieronymus und Ägidius. Es sind die Schutzpatrone der Stifterfamilie und des Doms von Lübeck. Die Außentafeln sind in Grisaille-Malerei gehalten, wie Memling sie von seinem Lehrer Rogier van der Weyden gelernt hat. Dargestellt ist die Verkündigungsszene. Der Erzengel Gabriel und die jungfräuliche Maria stehen dabei als steinerne Figuren plastisch in Nischen. Allein für dieses Werk ist der Besuch des Museums zu empfehlen.
Die Wohnkultur Lübecks
Mittelalter und Renaissance
Ganz anders stellt sich die Ausstellung im Obergeschoss dar. Hier durchwandern wir chronologisch angeordnet die bürgerliche Wohnkultur Lübecks von knapp 500 Jahren. Jeder Raum versucht nicht nur das übliche Mobiliar seiner Zeit zu präsentieren, es werden auch schlaglichtartig soziale und wirtschaftliche Themen angesprochen, die an die Geschichte oder Funktion des Raumes anknüpfen.
Den Anfang machen die Wohnkultur und die Gesellschaft des hansischen Kaufmanns am Übergang des Spätmittelalters zur frühen Neuzeit. Wir erfahren Wissenswertes über die Bedeutung des städtischen Rates in der Stadtgesellschaft und die Organisationsformen der Lübecker Handwerker in Zünften bzw. Ämtern. Holz und Backstein als Baumaterial im 16. Jahrhundert werden thematisiert. Immer wieder warten die Räume mit Kaminen und Wandvertäfelungen auf. Die für diese Zeit typischen Wandschränke sind ebenfalls zu bewundern. Der von Tönnies Evers dem Jüngeren im Lübecker Rathaus über viele Jahre geschaffene Festsaal (später als Kriegssaal bezeichnet) in vorzüglichen Renaissanceformen ist seit dem Zweiten Weltkrieg nur noch fragmentarisch erhalten und nun im St. Annen-Museum zu sehen. Im Raum steht auch eine prächtige Schenkschieve zur Aufbewahrung kostbarer Trinkgefäße.
Die Diele und die bürgerliche Pracht
Beeindruckend umgesetzt ist vor allem die im frühen 18. Jahrhundert ausgestattete Diele des Brauers Jochen Dismann und seines Sohnes Georg Hinrich. Ein solcher Multifunktionsraum bildete immer den Mittelpunkt des Hauses. Er war Verkaufsraum, Lager, manchmal auch Produktionsstätte. Es wurde dort auch gekocht, gegessen und gefeiert. Neben der Diele befand sich in der Regel eine Dornse, die als „Büroraum“ bzw. Kontor des Lübecker Geschäftsmanns diente.
Weitere Räume widmen sich den Themenkomplexen Musik, Kunst, Fayencen und dem Einzug fürstlicher Pracht in die bürgerliche Gesellschaft. Im 18. Jahrhundert wird es im reichen Bürgertum üblich, die Wohnräume mit Stuckdecken und Wandtapeten auszustatten und Musikinstrumente in den eigenen vier Wänden zu besitzen. Abgerundet wird unser Rundgang mit einem gut ausgestatteten Apothekenraum des 19. Jahrhunderts.
Fazit
Für wen ist ein Museumsbesuch im St. Annen-Museum lohnenswert? Zunächst besticht das Haus durch die besondere Atmosphäre eines mittelalterlichen Klosters, das noch heute in einem ruhigen Viertel der Lübecker Altstadt gelegen ist. Grundsätzlich sollte bei einem Besuch ein Interesse an mittelalterlicher Kunst oder frühneuzeitlicher Wohnkultur vorhanden sein. Da darf man sich auch von der eher klassischen und ein wenig eingestaubten Präsentation der Altarkunst im Erdgeschoss nicht abschrecken lassen. Dies ist dem Thema und den Ausstellungsobjekten geschuldet. Wer sich durch die Qualität der Objekte nicht mitreißen lässt, der wird vielleicht im Obergeschoss beim Rundgang durch die bürgerliche Wohnkultur Lübecks entschädigt. Gut umgesetzt ist hier die Inszenierung, die die Räume zugleich kontextualisiert.
Überhaupt macht das Museum den angesprochenen Mangel durch ein umfangreiches digitales Angebot wieder wett. Dabei gelingt es sogar, das historische Lübeck in das museale Angebot einzubeziehen. Ein Guide führt auf einem Stadtspaziergang durch die Hansestadt des 16. Jahrhunderts, durch die Zeit der beginnenden Reformation und an Wirkorte des bereits erwähnten Lübecker Renaissancemalers Hans Kemmer. Ihm und seinem Lehrer Lucas Cranach dem Älteren war erst jüngst eine viel beachtete Ausstellung im St. Annen-Museum gewidmet. Überhaupt profitiert man von Synergieeffekten, denn das Museum ist Teil des Museumsquartiers St. Annen, dem auch die Kunsthalle angehört. Welche Präferenzen man auch immer besitzt, dieser herausragende Ort sollte als fester Bestandteil eines mehrtägigen Besuchs von Lübeck eingeplant werden.