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Freilichtmuseum in der Lüneburger Heide
Schon bei der Vorbeifahrt ragen die erhöht liegenden Windmühlen mit ihren Flügeln aus der Baumlandschaft: Am südlichen Rand der Lüneburger Heide steht mit dem Internationalen Mühlenmuseum Gifhorn ein Freilichtmuseum, das in seiner Art einzigartig sein dürfte. Gezeigt werden seit 1980 in landschaftlich schöner Umgebung nicht nur heimische Mühlen, sondern weltweite historische Exemplare – neben Wind- auch Wassermühlen und eine Schiffsmühle. Ein zentrales Ausstellungsgebäude lädt zum Vertiefen in die Mühlenkunde ein. Im hinteren Teil des Museumsgeländes steht ein historisches Dorf aus Fachwerkhäusern, weiteren Mühlenbauten sowie einer orthodoxen Kirche.
Das Areal grenzt an den Schlosspark von Gifhorn. Das Flüsschen Ise fließt an den Mühlen vorbei und verbreitet sich hier zum Mühlensee. Die romantische Szenerie wird daher in den Sommermonaten von Kanufahrern, Tretbooten und kleinen Ausflugsschiffen bereichert. Das aus der Landschaft ragende Glockenpalast Museum im Stil eines mittelalterlichen orthodoxen Klosters gehört dagegen nicht zum Mühlenmuseum. Was die Einrichtung von anderen Freilichtmuseen unterscheidet, ist die Tatsache, dass viele Objekte keine translozierten Originale sind, sondern Nachbauten darstellen.
Museumsrundgang
Windmühlen am Mittelmeer
Nach dem Eingang mit dem Kassengebäude wenden wir uns gleich nach rechts und schlagen einen schön angelegten Weg entlang des Mühlensees ein. Am Seeufer begrüßen uns vier erhöht liegende Windmühlen, die wie in einer Staffage wirken. Thematisch finden wir uns am Mittelmeer wieder; ein Hauch von „Don Quijote“ umweht die Szenerie. In Reihe handelt es sich um für ihre Regionen typische Turmwindmühlen von der griechischen Insel Mykonos, Portugal, von der Insel Mallorca und schließlich aus der französischen Provence. Alle wurden zum Mahlen von Getreide genutzt.
Für das norddeutsche Auge ungewohnt ist nicht nur der Typus der Windmühlen, sondern auch einige konstruktive Details. So besitzen die Exemplare aus Griechenland und Portugal statt der uns bekannten Flügel lediglich Segelstangen mit dreieckigen Segeln. Die Mühlen verfügen zum Teil über Unter- oder Anbauten, in denen der Müller lebte. Besonders augenfällig wird dies an der balearischen Windmühle, bei der der schlanke Turm der Mühle auf einem quadratischen Untergeschoss steht.
Holländer- und Bockwindmühlen
An der französischen Mühle kehren wir um, überqueren eine romantische Holzbrücke und machen uns schließlich auf den Weg zum zentralen Museumsgelände. Hier passieren wir zunächst eine klassische Holländermühle. Sie wurde 1848 in Westdorf in Dithmarschen errichtet und 1979 nach Gifhorn versetzt, um schließlich zum Ausgangspunkt des Mühlenmuseums zu werden.
Einige Meter hinter dem Ausstellungsgebäude treffen wir auf eine Bockwindmühle. Es handelt sich um einen altertümlichen Mühlentypus, der in Deutschland bereits für das Mittelalter nachweisbar ist. Bei einer Bockwindmühle muss das gesamte Mühlenhaus, das auf einem Bock steht, in den Wind gedreht werden. Dies geschieht mithilfe des sogenannten Steerts, einem langen, zum Boden reichenden Balken. Dieser kann per Muskelkraft oder mit einer Drehwinde bzw. einem Stellrad verschoben werden.
Schiffs- und Wassermühlen
Das Gifhorner Mühlenmuseum kennt nicht nur Windmühlen. Steigt man von der Bockwindmühle den Hang zum Wasser herab, dann stößt man am Zufluss der Ise in den Mühlensee auf eine wahre Rarität. Hier liegt im Wasser eine Schiffsmühle, ein Mühlentypus, der in der Spätantike erfunden wurde und nur in seltenen Fällen die Zeit überdauert hat. Ihre Blütezeit hatten diese schwer zu wartenden Mühlen in der frühen Neuzeit. Das hiesige Exemplar ist ein Nachbau einer ungarischen Donau-Schiffsmühle. Es besteht aus zwei Schiffskörpern, zwischen denen das Schaufelrad im Wasser hängt.
Folgen wir dem Weg weiter Richtung Museumsdorf, treffen wir in einer Senke auf gleich drei hölzerne Wassermühlen. Sie stammen aus Tirol, Serbien und Korea. Die translozierte Tiroler Mühle besitzt als Besonderheit gleich zwei oberschlächtige Wasserräder, wodurch neben dem Mahlgang für Getreideschrot gleichzeitig ein zweiter für die Grüzeherstellung möglich war. Auch die benachbarte serbische Mühle ist ein Original. Es handelt sich um eine seltene Löffelrad-Wassermühle mit einer senkrecht stehenden Welle. Diese treibt die darüber befindlichen Mühlsteine direkt an. Dieser Typus ist vorwiegend in Gebirgen wie den Alpen, den Pyrenäen und den Karpaten anzutreffen, weil er sich große Gefälle nutzbar machen konnte. Auch die holzschindelgedeckte koreanische Mühle ist – überraschenderweise – ein Original. Sie besitzt ein oberschlächtiges Wasserrad und wurde genutzt, um Getreide zu stampfen, nicht zu mahlen.
Der Dorfplatz
Dahinter erreichen wir den Dorfplatz, der außerhalb des inneren Museumsgeländes liegt und damit frei zugänglich ist. Er wird umgeben von zahlreichen Fachwerkhäusern wie zwei Backhäusern, einer Rossmühle und weiteren Bauten mit Hofladen und Gastronomie. Die Rossmühle ist ein Nachbau einer achteckigen Schrotmühle von 1797. Das Antriebsrad wurde von Zugpferden in Bewegung gesetzt. Die dichte Folge der reich gestalteten Fachwerkgiebel lässt hier echte Dorfromantik aufkommen.
Nahe am Dorf stehen zwei weitere bemerkenswerte Mühlenbauten. Da ist zunächst der hoch aufragende Nachbau der Mühle von Sanssouci, einem Galerieholländer. Durch die hohe Bauart dieser Mühlen wurde es notwendig, eine Galerie rund um den Mühlenkörper anzulegen, von der aus die Mühlenkappe mittels Steert in den Wind gedreht oder die Flügel erreicht werden konnten. Hinter dem Dorf steht mit einer ukrainischen Windmühle der letzte Mühlenbau des Museums. Auch hier existiert eine Galerie. Das quadratische Untergeschoss ist in Blockbauweise errichtet. Für ukrainische Mühlen typisch sind die reich vorhandenen Verzierungen an Fenstern, Türen und Dächern.
Die russisch-orthodoxe Kirche
Damit wird bereits übergeleitet zum letzten Bauwerk unseres Besuchs, einer russisch-orthodoxen Kirche nach dem Vorbild eines russischen Originals aus dem 18. Jahrhundert. Der Holzbau steht auf einem Hügel, hoch aufragend über einem Teich, mit zahlreichen kuppelbekrönten, weit leuchtenden Türmchen. Der Anblick dieser opulenten Architektur hier inmitten der Lüneburger Heide erscheint fast etwas surreal und will auch thematisch nicht so recht zum Kernthema des Museums passen. Zu diesem Eindruck passt, dass für eine Besichtigung des Kirchenbaus ein separater Eintritt erhoben wird.
Der Sakralbau ist 1995 durch den Moskauer Patriarchen Aleksij II. geweiht worden. Im Untergeschoss findet sich eine umfangreiche Ausstellung zu liturgischen Gegenständen, darunter Ikonen, Öllampen, Leuchter, Gewänder, Stickereien, Taufgefäße, Bibeln und Ikonen. Im darüber befindlichen Kirchenraum zieht eine monumentale Ikonostase unseren Blick auf sich. Die biblischen Motive kommen uns sehr vertraut vor. Man fragt sich an dieser Stelle unweigerlich, ob das Gotteshaus, das ein Zeichen der Völkerverständigung setzen sollte, eines Tages wieder unbelastet betrachtet werden kann. Die Nachbarschaft zur ukrainischen Mühle trägt in diesem Kontext zumindest eine gewisse Tragik in sich.
Die Ausstellung
Wir kehren zurück zum zentralen Ausstellungsgebäude. Hier vertiefen wir den ersten Einblick in die Mühlenkunde, den wir durch die vielfältigen Mühlenbauten auf dem Museumsgelände erhalten haben. Kern der Ausstellung ist eine große Anzahl von detailverliebten Mühlenmodellen. Sie ermöglichen einen differenzierten Überblick über Verbreitung, Technik und Funktionsweise der unterschiedlichen Mühlentypen. Hier kann jeder seine eigenen Mühlen-Highlights bewundern!
Geradezu exotisch wirkten auf uns zwei Exemplare von Horizontal-Mühlen aus Afghanistan bzw. dem Iran. Diese konnten nicht in den Wind gedreht werden und waren auf gleichbleibende Luftströme angewiesen. Besonders lebendig präsentierte sich auch eine Ölmühle aus dem Iran, die von einem Kamel angetrieben wurde. Auch die Funktionsweise von hintereinandergeschalteten Poldermühlen in den Niederlanden, die das Land entwässern, sind an einem anschaulichen Modell vorbildhaft dargestellt.
Natürlich wird in der Ausstellung auch die Entwicklung der Mühlentechnik thematisiert. So erfahren wir unter anderem, wie die Erfindung der Windrose die Windnachführung der Mühlen revolutionierte. Wir blicken in die Anfänge der Müllerei und erkunden die zahlreichen Mühlennutzungsarten. Neben den bekannten Spielarten der Holländermühlen, den Bockwindmühlen und den Turmwindmühlen lernen wir zusätzlich Wippmühlen und Paltrockmühlen mit ihren spezifischen Eigenarten kennen. Die Nutzung von Mühlen geht weit über Getreidemahlen, Ölpressung und Entwässerung hinaus. Hättet ihr vermutet, dass Mühlen auch dazu genutzt werden können, Holz zu sägen? Oder habt ihr schon einmal vom Einsatz von Mühlen in der Tabakherstellung gehört? Die Einsatzmöglichkeiten von Mühlen sind vielfältiger, als wir es auf den ersten Blick erahnen. Und was ist eigentlich ein Kollergang?
Schlussbemerkung
Was nehmen wir aus dem Mühlenmuseum mit? Zunächst einmal wird man an keinem anderen Ort eine derartige Fülle und Vielfalt an Mühlen antreffen. Auch die Einbettung in eine hügelige Seen- und Flusslandschaft kann als besonders gelungen betrachtet werden und zieht auch naturverbundene Familien an. Da der Dorfplatz mit einigen umgebenden Mühlen sogar mit freiem Eintritt betreten werden kann und sich der Schlosspark von Gifhorn unmittelbar an das Areal anschließt, haben wir es hier mit einem Naherholungsgebiet von besonderem Reiz zu tun. Wer sich an Mühlengeschichte und Mühlentechnik erfreuen kann, ist in Gifhorn ohnehin genau richtig. Für den notwendigen Tiefgang sorgt die Dauerausstellung.
Nicht verheimlichen kann das Museum allerdings, dass man mit der Entwicklung einer modernen Einrichtung nicht ganz mithalten kann. Die vereinzelten kleinen Ausstellungen in den Mühlen wirken – um es lapidar auszudrücken – reichlich verstaubt. Der Museumsshop besteht lediglich aus einem kleinen Tresen in der Dauerausstellung. Dem gedruckten und nicht ganz aktuellen Museumsführer sieht man sein Alter ebenfalls bereits an. So wird auch eine russische Bauernwindmühle vorgestellt, die vor einigen Jahren wegen Baufälligkeit abgerissen werden musste. Dass man unter solchen Bedingungen vergebens nach einer Museums-App oder anderen digitalen Hilfsmitteln sucht, verwundert da nicht. Aufgrund der guten Illustrationen vor Ort und der sehr anschaulichen Dauerausstellung ist dies aber zu verschmerzen und das Mühlenmuseum trotz dieses Mankos unbedingt zu empfehlen.