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Kleinstadtidylle
Kleine pittoreske Städte haben es mir schon immer angetan. Durch Altstädte wie in Quedlinburg, Goslar, Soest, Limburg, Marburg, Bamberg oder Lüneburg zu schlendern, kann etwas Berauschendes mit sich bringen. An allen Ecken entdeckt man neue Details an historischen Fachwerk- oder Backsteingebäuden. Majestätisch ragen Kirchtürme aus dem Häusergewirr heraus oder thronen gar über den engen Altstadtgassen. Wenn die Sonne untergegangen ist, erzeugen altertümlich wirkende Laternen eine besondere Atmosphäre in den Straßenzügen. Von all dem besitzt die Stadt Neustadt in Holstein – etwa 30 km nördlich von Lübeck direkt an der Ostsee gelegen – zwar nicht im Überfluss, aber doch in einem bescheidenen Rahmen.
Lust auf einen Rundgang durch die Stadt mit den wichtigsten Sehenswürdigkeiten? Das machen wir aber nicht auf die gewöhnliche Art und Weise. Ich möchte es als historischen Stadtrundgang mit alten Ansichten angehen. Auf diese Weise entdeckt man seine Stadt ganz neu und auch der ortsunkundige Besucher wird angeregt, sich der Stadt auf eine nicht alltägliche Weise zu nähern.
Fakten über Neustadt – past and present
Neustadt ist eine mittelalterliche Stadtgründung des Grafen Adolf IV. von Schauenburg von 1244. Die Altstadt weist das für die ostelbischen Neugründungen des Hochmittelalters typisch regelmäßige Straßennetz mit großem zentralen Marktplatz auf. Unmittelbar an der Ostsee gelegen, sollte Neustadt als wirtschaftlicher Mittelpunkt für die Siedlungsbewegung im südlichen Wagrien dienen. Das Straßenbild ist weitgehend von Bauten des frühen 19. Jahrhunderts geprägt. 1817 vernichtete ein Stadtbrand den größten Teil der Gebäude der Altstadt. Es überrascht daher nicht, dass der Klassizismus in der Architektur der Stadt sehr präsent ist.
Neustadt besitzt heute knapp über 15000 Einwohner, wobei die Seebäder Pelzerhaken und Rettin eingemeindet sind. In den Sommermonaten wächst die Stadt durch Touristen um ein Vielfaches. Ein quirliges Treiben ist vor allem entlang der Hafenpromenade zu verzeichnen. Überhaupt ist das Wasser – allen voran die Ostsee – das große Kapital der Stadt. Neustadt punktet nicht nur durch das reizvolle Nebeneinander von Altstadt und Wasser, sondern mit einer sehr abwechslungsreiche Promenade, die vom sogenannten Binnenwasser über den Hafen und den Jungfernstieg bis zum Neustädter Strand und weiter über eine Steilküste bis nach Pelzerhaken und Rettin führt. Unzählige Male habe ich diesen Weg in meiner Jugend mit dem Rad oder zu Fuß bezwungen.
Ein historischer Rundgang
Altstadt und Marktplatz
An der Nordseite des Marktplatzes steht bis heute das etwas gedrungen wirkende klassizistische Rathaus, das nach dem Stadtbrand von 1817 an neuer Stelle errichtet wurde. Der mittelalterliche Vorgänger stand an der gegenüberliegenden Marktseite frei auf dem großen Platz. Die die Südseite des Marktplatzes einnehmende Stadtkirche wurde bereits mit der Stadtgründung begonnen und gehört zu den frühen Backsteinbauten Ostholsteins.
Der Blick vom Marktplatz in die Kremper Straße – heute Fußgängerzone – zeigt an deren Ende das Kremper Tor. Es ist das einzige erhaltene mittelalterliche Stadttor in Holstein außerhalb Lübecks und ein Wahrzeichen von Neustadt. Historische Aufnahmen des Tores mögen für Neustädter etwas befremdlich anmuten, denn erst 1907 wurde das ursprüngliche Erscheinungsbild rekonstruiert. Die meisten kennen es nur mit seinen Staffelgiebeln. Heute befindet sich im Kremper Tor das Stadtmuseum zeiTTor. Wie alle mittelalterlichen Städte besaß Neustadt früher mehrere Zugänge in die Stadt. Brücktor und Hochtor sind im 19. Jahrhundert geschleift worden.
Vom Markt führen mehrere Straßen herunter zum Hafen bzw. Binnenwasser: Fischerstraße, Brückstraße, Burgstraße und Klosterstraße. In den drei erstgenannten finden sich noch zahlreiche Beispiele historischer Bebauung. Die Klosterstraße darf man dagegen trotz ihres viel verheißenden Namens getrost auslassen. Sie führt vorbei am Klosterhof, der heute einen großen Parkplatz beherbergt. Vom ehemaligen Kloster an dieser Stelle wissen wir aus baulicher und historischer Sicht nicht viel. Es handelte sich um eine Gründung der Augustinerinnen aus den 1230er Jahren. Nach der Reformation verfiel das Kloster. Die letzten baulichen Reste auf dem Areal wurden 1964 abgerissen.
Binnenwasser und Hafen
Das Neustädter Binnenwasser ist ein Brackwassersee, der an seiner Südseite über einen schmalen Durchbruch mit der Ostsee verbunden ist. Süßwasserzulauf erhält das Binnenwasser durch die Kremper Au, Lachsau und den Mühlenbach – Bäche, die sich wild-romantisch durch das bewaldete ostholsteinische Hügelland schlängeln und in meiner Kindheit ein beliebtes Ausflugsziel für Abenteuerspiele gewesen sind. Die Promenade entlang des Binnenwassers liegt etwas abseits der Touristenrouten und lässt die Natur in die Stadt eindringen. Nur wenige Schritte von der Altstadt kann man hier wundervolle Sonnenuntergänge in einem Naturschutzgebiet erleben.
Dort wo Binnenwasser und Ostsee zusammenkommen, überquert die Hafenbrücke das Wasser. Ein wenig ist diese Stelle der heimliche Mittelpunkt von Neustadt. Nach Süden zieht sich beiderseits des Ufers der kleine charmante Hafen mit seinen Fischkuttern und Yachten entlang, um am Horizont allmählich über die Neustädter Bucht in die Lübecker Bucht und die Ostsee zu gleiten. Nach Norden hat man einen freien Blick auf das Binnenwasser und die wenige Kilometer nördlich gelegene Basilika von Altenkrempe, ein Kleinod der Backsteinromanik und einer der ältesten Backsteinbauten Norddeutschlands überhaupt. Nach Osten steigt die Brückstraße durch die Altstadt zum Marktplatz hin an. Und nach Westen führt die Lienaustraße aus der Stadt Richtung Lübeck und Eutin: Von den gewaltigen Speicherbauten, die hier vor allem im 19. Jahrhundert in Hafennähe entstanden, hat sich aber nur wenig erhalten.
Hier steht das zweite Wahrzeichen Neustadts, der sogenannte Pagodenspeicher. Der Name des Kornspeichers aus dem Jahre 1830 rührt von der mehrfach gestaffelten, fast tollkühnen Dachkonstruktion her. In Steinwurfweite ergänzt eine sehr markante, mehrarmige Straßenlaterne – eine Kopie der historischen Situation vom Marktplatz – die Szenerie unmittelbar am Ufer des Binnenwassers. Unnötig zu erwähnen, dass sich hier und entlang der Hafenpromenade vielseitige Gastronomie angesiedelt hat. Fangfrischem Fisch und schmackhaften Fischbrötchen steht also nichts im Wege.
Außerhalb der Stadttore
Wer sich einzig auf die Altstadt und den Hafen beschränkt, verpasst einige Highlights der Stadt. Überquert man die Hafenbrücke, so kommt man zunächst am klassizistischen Brückeneinnehmerhaus von 1842 vorbei. Folgt man der Lienaustraße nur wenige Meter stadtauswärts, so muss man schon sehr achtsam sein, um linker Hand etwas zurückversetzt nicht die zweite mittelalterliche Kirche Neustadts zu verpassen. Es handelt sich um die außerhalb der Stadtmauern für Reisende errichtete, spätmittelalterliche Kapelle des Hospitals zum Heiligen Geist.
Und was würde man in der Bahnhofstraße erwarten? Richtig, einen Bahnhof! Vielerorts sind diese verschwunden, umgebaut oder Nachkriegsbauten gewichen. Nicht so in Neustadt, wo ein ansehnliches Bahnhofsgebäude von der 1866 eröffneten ersten Bahnstrecke von Neustadt über Eutin nach Neumünster zeugt. 1881 erfolgte die Verlängerung nach Oldenburg. Die sogenannte Bäderstrecke nach Lübeck wurde dagegen erst 1928 eröffnet. Die Verbindung Richtung Eutin ist 1982 eingestellt worden, die Scheinen sind abgetragen.
Szenenwechsel: Verlässt man die Altstadt durch das Kremper Tor und folgt der Straße ein kurzes Stück, so steht man recht unvermittelt vor einer herrschaftlichen Gutsanlage, die man so nicht mitten in der Stadt, sondern auf dem holsteinischen Land vermuten würde. Der Marienhof entstand ab 1831 und beherbergt heute im Haupthaus und den Wirtschaftsgebäuden aus Fachwerk Restaurant sowie Café. Antikes und Kunst sind in Boutiquen zu erstehen. Ausstellungen, Kunst- und Handwerkermärkte finden ebenfalls regelmäßig statt.
Neustadt, meine Heimatstadt
Warum habe ich ausgerechnet Neustadt für die Blogparade „Die schönsten Kleinstädte in Deutschland“ ausgewählt und vorgestellt? Ganz einfach: Sie ist für mich so etwas wie meine Heimatstadt, in der ich zwar nicht geboren wurde, aber meine Schulzeit und Jugend verbracht habe. Das verbindet und verklärt auch ein wenig. Überraschend habe ich in den letzten Jahren festgestellt, dass Neustadt weitaus attraktiver ist, als man es so als Heranwachsender wahrnimmt. Da wirkte die Stadt auf mich gewöhnlich, weil eben täglich präsent. Die große Anzahl Touristen, die vor allem im Sommer entlang des charmanten Hafens flaniert, bezeugt aber, dass Neustadt viel mehr Anziehungskraft besitzt, als es mir früher bewusst war. Und noch kann sich Neustadt seinen kleinstädtischen Charme bewahren.
Neustadt ist lebenswert. Hier lebt man gut, wo andere Urlaub machen. Die Ostsee, der Strand, die Seenlandschaft der Holsteinischen Schweiz, das UNESCO-Weltkulturerbe Lübeck, alles in unmittelbarer Nachbarschaft gelegen. Ich glaube, nicht zuletzt meiner Zeit in Neustadt habe ich zu verdanken, dass ich mich bis heute zu Kleinstädten hingezogen fühle und gern in ihnen lebe und sie besuche. Ein Stück heile Welt, ohne sich von der großen Welt abgehängt zu fühlen. Ist es Zufall, dass ich heute wieder so wohne?
Neustadt in Holstein in alten Ansichten
Da ich noch familiäre Bezüge zu Neustadt besitze, habe ich im letzten Jahr für einen privaten Anlass ein kleines Buch layoutet: Neustadt in Holstein in alten Ansichten. Dabei habe ich viel über die Stadtgeschichte gelernt, was mir offensichtlich in meiner dortigen Zeit entgangen ist. Die Recherche war aufwändig, aber lohnenswert. Hier ein kleiner Auszug aus diesem Büchlein:
Weitergehende historische Informationen findet man auf den Seiten Du bist Neustadt sowie Erinnerungen an Neustadt/Holstein von Thomas Schwarz. Letzterer zeigt eine überwältigende Anzahl an historischen Fotografien über Neustadt, die jüngst auch Gegenstand einer Ausstellung im Stadtmuseum zeiTTor waren. Vor dieser Akribie ziehe ich meinen Hut. Ohne diese Arbeit wäre weder mein kleines Buch noch dieser Blogbeitrag möglich gewesen. Solchem Engagement ist es zu verdanken, dass Städte wie Neustadt sich ihrer vielfältigen Geschichte bewusst werden.
Lieber Damian,
dein Beitrag über deine Heimatstadt ist etwas ganz Besonderes! Ich liebe diese alten Fotos. Heute habe ich zufällig Fotos aus der Zeit von um 1920 vom Rheinhochwasser in Boppard in einer Ausstellung gesehen. Da ging mir als Bopparderin das Herz auf. Genau so muss es den Menschen in deiner Stadt bei dem Büchlein gehen.
Viele Grüße
Renate
Danke, Renate. Das Thema war auch wirklich auf mich zugeschnitten. Und historische Fotos verleihen der Szenerie einen ganz eigenen Charme. Mittlerweile findet man in einigen Städten ebensolche Rundgänge entweder mit Tafeln oder als App umgesetzt. Der Vergleich zwischen heute und damals ist meist sehr lehrreich und dokumentiert, wie sehr sich unser Umfeld und unser Leben verändern. Die Fotos aus Neustadt sind übrigens alle um 1900 entstanden, lediglich die Abbildung des Kremper Tores dürfte ein paar Jahre jünger sein.
Lieber Damian, was für ein famoser Beitrag. Da habe ich mir nun ein Lesezeichen gesetzt und werde sicher noch öfter darauf zurückkommen. Klasse, herzlichen Dank, Stefanie
Vielen Dank für die Blumen, Stefanie. Ich glaube, Leidenschaft ist ein wesentlicher Faktor, um eine Sache gut zu machen. Das gilt sicher auch für Blogbeiträge.
Hallo Damian, Ende September 2019 wird eine neue Neustadt-Ausstellung im Museum zeiTTor stattfinden.
(Arbeits-)Titel „Neustadt von Oben“
Es werden über 150 Luftbilder und natürlich viele andere alte Bilder gezeigt. Insgesamt über 1500 Bilder aus allen Bereichen.
Gruß Thomas Schwarz
Danke für den Hinweis, Thomas! Ob ich zu der Zeit in Neustadt weilen kann, weiß ich nicht, aber schönen Gruß an Frank Wilschewski, dem Leiter des Museums.
Die Ausstellung wird voraussichtlich bis Weihnachten gehen. (Genaue Termine stehen noch nicht). Vielleicht…..
Gruß richte ich aus.
Hallo Damian, vielen Dank für den Gruß, ist angekommen. Mir geht es wie dir: Die Attraktivität Neustadts mit seinen kleinen und großen Geschichtchen ist mir erst später bewusst geworden. Wie schön, dass du darüber berichtest! Viel Spaß und Erfolg weiterhin dabei.
Hallo Frank, ich beobachte die Geschichte Neustadts unregelmäßig aus der Ferne und bin natürlich auch gelegentlich vor Ort. Wie immer reicht die Zeit nicht, alles zu erledigen. Dabei müsste ich unbedingt mal bei dir im Museum vorbeischauen.
Hallo Damian,
gab es 1955 eine Grundschule hinter dem Tor?
Ich würde 55 in Neustadt eingeschult.Wohnte damals auf dem Langacker.
Fred
Hallo Fred,
ich bin erst Ende der 70er nach Neustadt gekommen. Damals gab es zwei Grundschulen. Eine davon war die Hochtor-Grundschule, die ihren Namen dadurch trug, dass sie in der Nähe dieses ehemaligen Stadttores lag. In gehe aber mal davon aus, dass du das existierende Kremper Tor meinst. Dort kenne ich keine Grundschule.
Hallo,
gibt es historische Fotos vom Petersen-Speicher und würde mir diese zur Verfügung stellen?
Gruß Carsten
Hallo Carsten,
ich würde zunächst auf https://www.schwarz-neustadt.net/ recherchieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du bei dieser umfangreichen Sammlung nicht fündig wirst. Als zweiten Schritt würde ich Thomas Schwarz persönlich anschreiben.