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Stiftskirche Jerichow – Wiege der norddeutschen Backsteinarchitektur

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Jerichow - Stiftskirche
Die Prämonstratenser-Stiftskirche in Jerichow

Eine Klosteranlage der Prämonstratenser

Ich besitze ein besonderes Verhältnis zur Prämonstratenser-Stiftskirche in Jerichow, schließlich war der romanische Backsteinbau ein zentrales Element meiner Dissertation über die frühe Backsteinarchitektur an der Mittelelbe – genauer: in der Altmark und im Jerichower Land. Entsprechend häufig war ich vor Ort und studierte jeden Backstein und jede Baufuge. Damals noch ein Kleinod und Geheimtipp für Bauforscher, Kunsthistoriker und Eingeweihte, empfängt heute ein Besucherzentrum die Touristen. Das Außengelände ist mit einem Klostergarten nach mittelalterlichen Vorbildern aufgewertet und eine neue Dauerausstellung ist im letzten Jahr eröffnet worden.

Die Doppelturmfassade der Stiftskirche ragt steil in den Himmel und ist weit über die Elbe ins Land zu sehen. Sie zeugt von dem herausragenden mittelalterlichen Außenposten der christlichen Mission. Die eigentliche Bedeutung kommt der Klosteranlage und vor allem ihrer Kirche aber durch den Umstand zu, dass sie eines der ältesten Backsteinbauwerke Norddeutschlands ist und mit ihrer Architektur prägend war für unzählige Bauten in ihrer Nachfolge. Genau diese Besonderheit möchte ich dem interessierten Leser mit meinem Artikel näherbringen.

Der frühe Backsteinbau in Nordeuropa und seine Wurzeln

Kurz nach der Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden nördlich der Alpen zahlreiche Zentren der Backsteinarchitektur. Auf der dänischen Insel Seeland waren die Klosterkirchen von Esrom (Zisterzienser), Ringsted (Benediktiner) und Sorø (Zisterzienser) in den 1160er Jahren im Bau. In Holstein sind es zeitgleich der Ratzeburger und Lübecker Dom sowie die Segeberger Stiftskirche. In der Mark Brandenburg ist neben Jerichow der Brandenburger Dom zu stellen. Obersachsen weist mit der Zisterzienser-Klosterkirche Altzella und der Stiftskirche Altenburg Parallelbauten auf.

Den genannten Backsteinzentren ist gemein, dass sie – wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung und aus verschiedenen Regionen – Anregungen aus Oberitalien aufgenommen haben. Trotz des Fehlens direkter Nachweise ist es in der Forschung unumstritten, dass oberitalienische Fachkräfte für die ohne experimentelle Vorstufen technisch äußerst akkurat ausgeführte Errichtung der Jerichower Stiftskirche verantwortlich sind. Die Verbindungen sind vor allem nach Pavia, aber auch nach Mailand und Bologna nachzuvollziehen. Hervorzuheben ist die technische Perfektion bei der Verwendung des Baumaterials in Jerichow. Dies gilt sowohl für die Herstellung der Backsteine als auch für den Mauerungsprozess selbst.

Jerichow - Stiftskirche - Apsis
Hauptapsis mit Kreuzbogenfries und polygonalen Wandvorlagen

Die Jerichower Stiftskirche

Quellenlage und Datierung

Wichtigste Ansatzpunkte für die zeitliche Fixierung der Jerichower Stiftskirche sind die überlieferten Urkunden zur Gründungsgeschichte des Stiftes. Die Stiftungsurkunde wurde 1144 von Hartwig von Stade, Dompropst von Bremen und Domherr in Magdeburg, als Inhaber umfangreichen Allodialbesitzes im Elbe-Havel-Winkel ausgestellt. Bald darauf kam es zur Verlegung des Stiftes an den heutigen Standort. Der Magdeburger Erzbischof Friedrich bestätigte 1148 einen Gütertausch, durch den der Konvent in den Besitz eines Geländes nördlich des Ortes Jerichow gelangte. Es folgten drei weitere Urkunden, die alle auf eine bestehende Kirche Bezug nahmen. 1159 bestätigte Papst Hadrian IV. die Stiftsgründung. Gleiches erfolgte 1172 durch Erzbischof Wichmann. Letzterer stellte 1178 eine Schenkungsurkunde für das Stift aus.

Die Stiftskirche Jerichow galt lange Zeit als ältester Backsteinbau Norddeutschlands. Mit der frühestmöglichen Datierung nach 1148 nahm der Bau die chronologische Primärstellung im nordeuropäischen Kontext ein. Durch die Neubewertung der Schriftquellen wurden aber in den letzten Jahrzehnten auch Spätdatierungen nach 1178 diskutiert. Letztlich kann nur eine Grabung Aufschluss darüber geben, ob die in den Quellen genannte Kirche auf einen provisorischen Vorgängerbau zu beziehen ist oder der heute aufrechtstehende Kirchenbau auch den Erstbau darstellt.

Bauchronologie

Auf den ersten Blick erscheint der Kirchenbau als einheitlich errichtet. Doch am Baukörper sind bei Beachtung der Baubefunde mehrere Bauabschnitte ablesbar. Der erste Plan sah eine kreuzförmige Basilika mit nur drei Freistützenpaaren im Langhaus und je einer Querhausapsis vor. Nebenchöre, Krypta und Westbau mitsamt anschließender Langhausverlängerung sind späteren Baumaßnahmen zuzurechnen.

Die Bauzeit des Westbaus ist präzise durch die dendrochronologisch ermittelten Daten einzugrenzen, womit ein Baubeginn um 1240 angenommen werden kann. Während das rundbogige Westportal noch in romanischer Tradition verhaftet bleibt, trägt die darüberliegende, mit Überfangbogen zusammengezogene Dreifenstergruppe eine frühgotische Prägung, die sich in den folgenden Geschossen, insbesondere in den mit spitzen Kleeblattbögen abschließenden Blendarkaden, fortsetzt. Die Obergeschosse des Westbaus dürften noch im 13. Jahrhundert vollendet worden sein und greifen ein letztes Mal mit dem abschließenden Rautenfries auf ein aus romanischem Formengut tradiertes Motiv zurück.

Baugestalt

Nähert man sich der Kirche von Osten, so fallen zunächst die drei markanten Apsiden ins Auge. An der Hauptapsis ist der Formenkanon des 12. Jahrhunderts besonders akkurat ausgeführt. Ein Traufenfries und polygonale Wandvorlagen gliedern das Halbrund. Insbesondere der Kreuzbogenfries wird in der Nachfolge zu einem Leitmotiv romanischer Backsteinarchitektur in Norddeutschland und ist aus Oberitalien herzuleiten. Den weiteren Baukörper prägen zusätzlich Rundbögen und eine Lisenengliederung. Die am Westportal und am nördlichen Seitenschiffsportal auftauchende Rechteckvorlage stellt ebenfalls ein zentrales Motiv früher Backsteinbauten rund um Jerichow dar.

Das Innere der flachgedeckten Basilika mit Querhaus ist von auffälliger Strenge geprägt. Die Bögen der Langhausarkaden werden von gemauerten Rundpfeilern getragen. Besondere Beachtung verdienen die markanten Trapezkapitelle, deren Form ebenfalls nach Oberitalien zurück verfolgt werden kann. Auch sie gehen in den charakteristischen Formenschatz romanischer Backsteinarchitektur nördlich der Alpen ein.

Jerichow - Stiftskirche - Mittelschiff
Mittelschiff der Stiftskirche

Die Krypta

Der erst nach einem Planwechsel eingebaute Kryptenraum erhöht den Chor mitsamt Querhaus über die üblichen Proportionen hinaus. Die Säulen der zweischiffige Hallenkrypta tragen reich ornamentierte Kapitelle. Die Einordnung des hier auftauchenden Muschel-Palmetten-Motivs ist grob ins ausgehende 12. Jahrhundert vorzunehmen.

Die Klausur

Anlage

Die Klausurgebäude südlich der Kirche sind in außergewöhnlicher Vollständigkeit erhalten geblieben. Dies betrifft insbesondere den Ost- und den Südflügel. Lediglich der nördliche Kreuzgang ist nicht mehr existent. Die Spuren der Gewölbekappen sind aber an der Außenwand des Seitenschiffs der Stiftkirche noch gut erkennbar. Der Westtrakt der Klausur, der ursprünglich den Konversen vorbehalten war, ist im Kern ebenfalls romanisch, wurde aber im Spätmittelalter wesentlich ausgebaut und überformt.

Hervorzuheben ist das Portal, das vom Kreuzgang in die Kirche führt. Erst auf den zweiten Blick wird ersichtlich, dass es nach dem Einbau der Krypta nachträglich als neuer Zugang zur Kirche angelegt wurde. Die Einordnung der mit Ornamenten überzogenen eingestellten Säulenschäfte und der Kapitelle dürfte somit ebenfalls ins ausgehende 12. Jahrhundert erfolgen.

Kapitelsaal

Den wichtigsten Raum des Ostflügels stellt der Kapitelsaal, der Versammlungsraum der Stiftsherren, dar. Seine Lage im Osten der Anlage entspricht den üblichen Konventionen mittelalterlicher Klöster. Die Bedeutung des Raumes wird durch sein Vorspringen aus der Flucht des Klausurtrakts nach Osten betont. Zum Kreuzgang öffnet er sich durch ein Doppelportal und zwei gekuppelte rundbogige Fenster. Die Gewölbe werden von Sandsteinsäulen mit Palmettenkapitellen getragen. Letztere wirken wie ihre Pendants am Portal des Kapitelsaals in ihrer plastischen Ausformung reduziert und dadurch möglicherweise wenige Jahrzehnte älter als der Bauschmuck der Krypta.

Sommer- und Winterremter

Der südliche Klausurtrakt wird bestimmt von zwei vierjochigen Räumen. Sie werden durch Säulenreihen jeweils in zwei Schiffe geteilt. Der westliche Raum wurde nachweislich 1628 als Remter, also als Speisesaal tituliert. Der östliche war ursprünglich zum Kreuzgang hin durch Arkaden offen, die noch in romanischer Zeit vermauert wurden. Die Räume werden heute zur Unterscheidung als Winter- und Sommerremter bezeichnet.

Dabei ist der westliche Winterremter mit seiner aus dem sächsischen Umfeld stammenden Kapitellornamentik aus Palmetten, Diamantbändern und Tierdarstellungen als älter anzusehen. Der Sommerremter mit seinen charakteristischen Kelchblockkapitellen mit dem bemerkenswert plastisch ausgearbeiteten Akanthusdekor ist recht präzise in die Zeit um 1230 zu datieren.

Würdigung

Die Jerichower Prämonstratenser-Stiftskirche ist mir ihrer Klausuranlage eines der wichtigsten Zeugnisse der frühen Backsteinarchitektur nördlich der Alpen. Lange Zeit galt Jerichow sogar als Ursprungsort der bautechnischen Revolution. Ob diese Einordnung haltbar ist, ist nach heutigem Forschungsstand aber nicht mit Gewissheit zu bestimmen.

Ungeachtet der offenen Fragen zur Datierung ist aber festzuhalten, dass die Jerichower Stiftskirche eine in technischer und stilistischer Hinsicht epochemachende Architektur aufweist, die auf eine Vielzahl von Kirchenbauten nachwirkte. Insbesondere im näheren Umfeld der Altmark und des Jerichower Landes zeigt sich der Einfluss Jerichows auf den romanischen Backsteinbau an diversen Landpfarrkirchen. Unter ihnen sind vor allem die Dorfkirchen von Schönhausen, Redekin, Giesenslage, Königmark, Melkow, Berge, Groß-Mangelsdorf und Groß-Wulkow hervorzuheben.

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