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Zeitreise mit dem Deutschen Auswandererhaus

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Wartehalle Norddeutscher Lloyd und Kaje Bremerhaven
Wartehalle des Norddeutschen Lloyd und Kaje in Bremerhaven (Holzschnitt 1871)

Bremerhaven als Auswandererhafen

Wir statteten dem Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven in diesem Winter nicht zum ersten Mal einen Besuch ab. Das Museum verfügt über ein bemerkenswertes Vermittlungskonzept: Wer das Haus betritt, der begibt sich auf eine Zeitreise – eine emotionale Reise, die mit dem Aufbruch in der Heimat beginnt, die beschwerliche Schiffspassage über den Atlantik erleben lässt und die von den Ängsten und Hoffnungen mit der Ankunft in der Neuen Welt erzählt.

Aber beginnen wir doch ganz von vorne: Das Deutsche Auswandererhaus steht nicht zufällig in Bremerhaven. Es ist ein Originalschauplatz, denn die Stadt war Mitte des 19. Jahrhunderts der größte Auswandererhafen Kontinentaleuropas. Über 7 Millionen Menschen bestiegen hier als Auswanderer oder Flüchtling ein Schiff. Was liegt also näher, als die Geschichte der deutschen Auswanderung genau an diesem Ort zu erzählen!

Deutsche Auswanderungsgeschichte

Eine neue Identität

Mit dem Kauf der Museums-Tickets bekommen wir – unserem Geschlecht entsprechend – eine Identität, einen Avatar zugewiesen. Fortan folgen wir in der Ausstellung dem Schicksal unserer Auswanderer, wir lernen ihre Biographien und somit auch die Menschen kennen. Ich nehme die Rolle von Carl H. Westphäling ein, der 1884 nach Puerto Rico auswanderte, um dort eine Handelsniederlassung zu leiten. Meine Frau begleitet die jüdische Arztin Hertha Nathorff, die 1939 vor den Nazis in die USA floh.

Mit der beigefügten i-Card können die Besucher die zahlreichen Medien- und Hörstationen aktivieren. Übrigens: Mit der Karte sind auch sämtliche andere Biographien abrufbar, nicht nur die des eigenen Charakters. Sie erzählen von der langen und mit persönlichen Schicksalen verbundenen Auswanderungsgeschichte Deutschlands und Europas.

Wartehalle und Columbuskaje

Wir starten das Abenteuer in einem Nachbau der Wartehalle der Schifffahrtsgesellschaft „Norddeutscher Lloyd“, die diese 1869 am Bremerhavener Hafen errichten ließ. Auf den schmalen Bänken entlang der Wände sitzend und voller Neugier werden wir nun in das Thema eingeführt. Unsere Reise beginnt schließlich mit dem Öffnen der Türen. Wir treten heraus auf die Columbuskaje.

Vor uns erhebt sich in der Dunkelheit die Bordwand des Dampfschiffs „Lahn“. Auswanderer drängen sich an der Kaje in Erwartung ihres Aufbruchs in ein besseres Leben. Reisegepäck und Schiffsladung türmen sich auf dem Kopfsteinpflaster. Die Szenerie wirkt durch das Stimmengewirr und die detailgetreuen Rekonstruktionen beängstigend real.

Deutsches Auswandererhaus - Columbuskaje
Columbuskaje mit der Bordwand der „Lahn“

Wer ist hier Museumsbesucher, wer ist Auswanderer? Immer wieder verschwimmen die Welten in der düsteren Atmosphäre des Ortes. Angst, Sorge, Hoffnung, Ungeduld spiegeln sich in den ausdrucksstarken Gesichtern wider und lassen die Szenerie real und emotional werden.

Ist nicht in fast allen Familien die Auswanderung in ihrer Geschichte verankert und somit hier anwesend? An diesem Ort kommt mir die eigene Ausreise als sechsjähriges Kind in Erinnerung, die mich vor mehr als 40 Jahren mit meinen Eltern als Spätaussiedler aus dem polnischen Oberschlesien nach Westdeutschland brachte. Damals stellte dies eine halbe Weltreise dar – ein Wechsel auf die andere Seite des politischen Zauns.

Galerie der 7 Millionen

Der Weg führt uns weiter in die „Galerie der 7 Millionen“. In diesem Raum verbringen die meisten Besucher wohl die längste Zeit im Museum. Von den 7,2 Millionen Auswanderern, die über Bremerhaven bis 1974 das Land verließen, ist hier eine Vielzahl von Namen und die dazugehörigen Dokumente zusammengetragen: 2000 Schicksale in Archivschränken. Erstmals können wir uns intensiv unserem neuen Charakter zuwenden und seine Biographie studieren.

Audiostationen vermitteln die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen jeder Epoche. Wir erfahren Einzelheiten über die Ursachen und die Ziele der Emigration in den rund 300 dargestellten Jahren Auswanderungsgeschichte. Kaum überraschend: Das wichtigste Auswanderungsziel der Deutschen waren stets die USA. In geringeren Maßen zog es sie dagegen nach Kanada, Brasilien, Argentinien und Australien, wo die Bedingungen für einen Neuanfang ungleich schwerer waren.

Ursachen der Auswanderung

Die Ursachen für Abwanderung waren stetigem Wandel unterzogen. Im 18. Jahrhundert waren es vor allem Glaubensflüchtlinge, die es in die USA zog. Bereits 1683 entstand mit Germantown in Pennsylvania die erste deutsche Siedlung in Nordamerika. Deutsche Mennoniten erhofften sich dort eine freie Religionsausübung. Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts war es vor allem der Landmangel, der ganze Familien zum Verlassen ihrer Heimat bewog. Mitte des 19. Jahrhunderts konnten 75% der Bauern nicht von ihrem meist spärlichen Stück Land leben. In der Neuen Welt gab es dagegen Land zu günstigen Konditionen im Überfluss.

Die Armut großer Teile der deutschen Bevölkerung wurde auch durch die beginnende Industrialisierung befeuert, da durch sie das traditionelle Handwerk nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden konnte. Viele Berufe wurden überflüssig, noch bevor sich neue Berufszweige etablieren konnten. In den 1880er Jahren ließ eine Wirtschaftskrise die Zahl der Auswanderer nach oben schnellen. In der neuen Heimat erhoffte man sich dagegen Arbeit für einen gesicherten Lebensunterhalt.

Auch in den 1920er Jahren stieg die Zahl der Auswanderungswilligen, doch eine seit 1921 geltende Quotenregelung machte die Einwanderung in die USA zu einem schwierigen Unterfangen. In der Zeit des Nationalsozialismus waren es vor allem jüdische Flüchtlinge, die sich auf den Weg über den Atlantik machten. Eine restriktive Einwanderungspolitik vieler Staaten führte für viele zu einer wahren Odysee. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem die sogenannten „Displaced Person“, die in den USA aufgenommen wurden. Es handelte sich dabei um Heimatlose und Entwurzelte, die sich aus ehemaligen KZ-Häftlingen, Zwangsarbeitern oder Kriegsgefangenen zusammensetzten.

Die Überfahrt

Über die Gangway betreten wir den Schiffsrumpf. Noch einmal blicken wir von hier oben zurück auf die Kaje, wo sich im Halbdunkeln die Menschen drängen. Winkt dort jemand zum Abschied? Ein Raum voller Koffer und Truhen und die Modelle dreier Schiffe empfangen uns: das Segelschiff „Bremen“ (Stapellauf 1854), der Schnelldampfer „Lahn“ (Stapellauf 1887) und der Ocean Liner „Columbus“ (Stapellauf 1923, Umbau 1929).

In den nun anschließenden rekonstruierten Zwischendecks erleben wir die Reise am Beispiel der drei genannten Schiffe. Detailgetreu werden die Bedingungen an Bord nachgezeichnet. Passagiere berichten von den Gefahren auf dem Meer, von Krankheiten, von den hygienischen Zuständen, der Verpflegung und vom Bangen und Hoffen auf eine bessere Zukunft.

Trotz vergleichsweise guter Mindeststandards auf Bremer Schiffen überlebten Mitte des 19. Jahrhunderts zwei bis drei Prozent der Auswanderer die Überfahrt nicht. Viele Schiffe erreichten ihr Ziel auch gar nicht, weil sie dem rauen Wetter des Atlantiks nicht standhielten. Die Segelschiffe waren als Handelsschiffe konzipiert. Bremer Kaufleute, die aus der Neuen Welt Waren nach Europa schifften, konnten die Auslastung ihrer Schiffe durch den Transport von Auswanderern in die Gegenrichtung deutlich steigern und damit hohe Gewinne erzielen.

1857 wurde der „Norddeutsche Lloyd“ gegründet und damit die erste regelmäßige Dampfschiffverbindung zwischen Deutschland und den USA eingerichtet. Die Reise wurde in den folgenden Jahrzehnten sicherer und vor allem mit den großen Ocean Liners komfortabler. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stieg die Reederei zur größten Passagierdampfschifffahrtsgesellschaft der Welt auf. Die Routen gingen nun auch nach Südamerika, Asien und Australien. Der Heimathafen war Bremerhaven. Das letzte Auswandererschiff legte am 17. Mai 1974 von der Columbuskaje nach Australien ab.

Ankunft auf Ellis Island

Die Ankunft in der Neuen Welt könnte kaum emotionaler sein. Auf dem Schiffsdeck laufen historische Filmaufnahmen vom Einlaufen der Schiffe in New York, begleitet von einer musikalischen Untermalung, die ich zwischen Melancholie und vorsichtiger Aufbruchstimmung ansiedeln würde. Hier verweilen wir einen Augenblick und lassen die Szenerie auf uns wirken, bevor wir durch einen langen Gang in unser neues Leben treten.

Wir befinden uns auf Ellis Island, der größten und bedeutendsten Einwanderungsstation der USA, direkt im Hudson River vor New York. In der Nachbarschaft ragt die Freiheitsstatue auf: ein letztes Mal Bangen und Hoffen auf die neue Freiheit. Wir machen an einer Medienstation einen (virtuellen) Einbürgerungstest und fallen durch. Für uns Museumsbesucher geht es dennoch weiter. Aber wie muss man sich als Einwanderer in dieser ablehnenden Umgebung aus langen Sitzbänken in engmaschigen Zäunen, die an Zuchtanstalten erinnern, gefühlt haben?

Im „Saal der Biographien I“ begegnen wir unseren Charakteren wieder. Sie haben es geschafft, so wie wir, nur ungleich schwerer und entbehrungsreicher. Was aus ihnen geworden und wie es ihnen in ihrer neuen Heimat ergangen ist, das erfahren wir in diesem Raum. Die Schicksale, die hier vereint sind, können stellvertretend stehen für die 7,2 Millionen Auswanderer, die ihr altes Leben an der Columbuskaje in Bremerhaven hinter sich gelassen haben.

Grand Central Terminal

Wir sind endlich angekommen und stehen nun in der prächtigen Bahnhofshalle des 1913 eröffneten New Yorker Bahnhofs „Grand Central Terminal“. An die Halle schließen sich typisch deutsch-amerikanische Lokalitäten an: ein Delikatessengeschäft, eine Näherei, eine Bar. Von hier aus verstreuten sich die Einwanderer in alle Himmelsrichtungen.

An den Schaltern stehen wartende Personen mit ihrem Reisegepäck. Ihre Kleidung stammt aus unterschiedlichen Jahrzehnten. Teilweise wirkt die Inszenierung so realistisch, dass wir versucht sind, uns in die Schlange einzureihen. Erst allmählich realisieren wir, dass es den Wartenden nichts ausmacht, wenn wir uns vordrängen. Die Medienstationen an den Schaltern stellen vielfältige Informationen zu den Zielen der Einwanderer bereit. Wohin zog es sie innerhalb des Landes? Was erwartete sie dort?

Deutsches Auswandererhaus - Grand Central Terminal
Grand Central Terminal

Einwanderungsgeschichte

Schnitt! Perspektivwechsel: Das Deutsche Auswandererhaus hat vor gut einem Jahrzehnt die Migration nach Deutschland zu einem neuen zweiten Schwerpunkt der Dauerausstellung gemacht und 2021 diesen Teil mit der Einweihung eines Erweiterungsbaus grundlegend neugestaltet.

Saal der Debatten

Dabei verlangt man den Besuchern zunächst viel ab. Im „Saal der Debatten“ werden anhand zahlreicher Filme, Audio- und Videostationen die seit dem letzten Krieg anhaltenden gesellschaftlichen Kontroversen rund um Migration und Asylrecht ins Bewusstsein gerückt. Hierbei werden vier kontext- und ortsbezogene Perspektiven eingenommen: im Bundestag, im Privaten, in der Wissenschaft sowie bei Demonstrationen auf der Straße. Die Struktur und das Konzept dahinter erschließen sich jedoch erst auf den zweiten Blick.

Was für ein Kontrastprogramm zu der erlebnisbasierten Inszenierung der Ausstellung zur Auswanderungsgeschichte! Das Publikum wird hier nicht an die Hand genommen, sondern soll selbst reflektieren und zu eigenen Schlüssen gelangen. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Konzept nicht nach den unzähligen Eindrücken der bisherigen Ausstellung überfordert. Ganz offen: Uns brachte es an unsere Grenzen.

Salon der Biographien

Bodenständiger ist der folgende „Saal der Biographien II“ konzipiert. Rund 400 Objekte in Themen- und Einzelvitrinen erzählen Migrationsgeschichte. Sie sind verknüpft mit unterschiedlichen Aspekten der Einwanderung und mit den Biographien ihrer ursprünglichen Besitzer. Deren an Medienstationen abrufbaren Geschichten, Schicksale und Erinnerungen führen uns auf eine multiperspektivische Ebene des Verständnisses der Herkunft und Bedeutung der ausgestellten Gegenstände.

Digitale Denkräume

Der letzte Raum, das „Forum Migration“, knüpft konzeptionell an den Saal der Debatten an. Überall in den Ausstellungsräumen sind Touch-Beamer-Stationen, „Critical Thinking Stations“, vorzufinden, die die Museumsbesucher anhand einer Fragerunde dazu animieren, ihre eigenen Meinungen und Vorstellungen zur Migration zu reflektieren. Hier im Forum haben wir nochmal die Möglichkeit, unsere bisherigen Antworten zu überdenken und Fehlendes zu ergänzen.

Doch der Höhepunkt dieser digitalen Denkräume ist die statistische Auswertung aller vorangegangenen Besucherantworten in Echtzeit an einem groß dimensionierten Wandbildschirm. In angenehmer Atmosphäre und auf einer Couch sitzend können wir unseren Besuch ausklingen lassen und uns der Frage hingeben, wie sich unsere eigene Einstellung in der breiten Masse verorten lässt. Ist das, was uns die zahlreichen Diagramme zeigen, repräsentativ für die gesamte Gesellschaft? Eher nicht.

Der finale Eindruck

Das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven ist eine Erlebniswelt und ein Bildungsort erster Güte. Es ist jeden Cent des Eintritts wert, vorausgesetzt man bringt die nötige Zeit mit, um nicht nur oberflächlich durchzurauschen. Die Auszeichnung als Europäisches Museum des Jahres 2007 ist daher nicht überraschend. Insbesondere die Inszenierung der Auswanderung von der Wartehalle, dem Gang über Kaje und Gangway, der beschwerlichen Schiffsreise bis zur erlösenden Ankunft in der neuen Heimat ist so eindringlich und detailverliebt umgesetzt, dass sie sich lange ins Gedächtnis brennt und nachwirkt.

Weniger überzeugte uns der neue Ausstellungsbereich zur Einwanderung. Zu bemüht wirkte insbesondere der „Saal der Debatten“ auf uns. Dem Besucher wird mit dem partizipativen Ansatz viel Eigenverantwortung aufgebürdet. Bereits der Einstieg über den interaktiven Tisch in der Mitte des Raumes war so wenig intuitiv, dass er jedem Eintretenden vom Museumspersonal erläutert werden musste. Wir verließen diesen Ausstellungsbereich letztlich mit mehr Fragen als Antworten, aber vielleicht ist genau dies das Ziel. Unser Vorsatz für den nächsten Besuch: mit dem zweiten Ausstellungsteil einsteigen!

Leider war es uns nicht vergönnt, die Dauerausstellung zur Migration vor der Neukonzipierung von 2021 zu besichtigen. Sie folgte einen anderen Konzept und setzte auf Anschaulichkeit und Erfahrbarkeit, ähnlich dem Ausstellungsteil zur Auswanderung. Im Mittelpunkt stand die Einwanderung der 50er- bis 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts, die geprägt war vom Zuzug von Gastarbeitern. Die Besucher bewegten sich durch einen Kiosk, ein Einkaufszentrum, einen Frisörsalon, ein Antiquariat oder einen typischen Kinosaal jener Zeit. Auch der für die Einwanderung obligatorische Behördengang wurde inszeniert. Ich denke, diese Art der Vermittlung hätte uns mehr angesprochen als das neue Konzept.

Wer einen kurzen Eindruck von der älteren Ausstellung zur Migrationsgeschichte erhaschen möchte, dem möchte ich hier abschließend einige Erfahrungsberichte von Reisebloggern zur Lektüre empfehlen:

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